Die Entwicklung studiumsbezogener interkultureller
Kompetenzen im universitären Fremdsprachenunterricht
Adelheid Schumann
(Siegen)
Abstract
(English)
The internationalization of higher
education in Germany has led to changes in academic communication structures.
For all actors of university life – students, lecturers and administrators –
the acquisition of intercultural competences has therefore become necessary. In
university language courses, these competences may be acquired through
intercultural training programs based on the work with critical incidents
(CIs). CIs can be used as stimuli for the reflection of typical and frequent
misunderstandings occurring in academic communication contexts. The following
article presents a training method which aims to foster intercultural
competences in language learning settings. The focus is on discourse
conventions like forms of addressing and welcoming, norms of politeness when
getting into contact with somebody, conversation styles, conversation topics,
and taboo topics.
Key words: Internationalisation of universities,
intercultural communication, critical-incident training
Abstract (Deutsch)
Die
Internationalisierung der deutschen Hochschulen hat zu Veränderungen der
universitären Kommunikationsstrukturen geführt. Für alle Akteure des
Hochschulalltags - Studierende, Dozenten und Administratoren - ist es dadurch
notwendig geworden, über interkulturelle Kompetenzen zu verfügen. Für den
Erwerb dieser Kompetenzen im Rahmen des universitären Fremdsprachenunterrichts
bietet sich die Arbeit mit ausgewählten Critical
Incidents an, die typische und häufige Missverständnisse in der
studiumsbezogenen Kommunikation abbilden. Vorgestellt wird in diesem Beitrag
ein didaktisches Modell, in dem der Erwerb interkultureller Kompetenzen mit der
Erlernung der deutschen Sprache verbunden wird und Diskurskonventionen wie Anredeformen
und Begrüßungsrituale, Höflichkeitsnormen bei der
Kontaktaufnahme, Gesprächsstile und Gesprächsführung, Gesprächsthemen
und Tabuverletzungen im Mittelpunkt stehen.
Stichwörter: Internationalisierung
der Hochschule, Interkulturelle Kommunikation, Training mit Critical Incidents
1
Interkulturelle
Kompetenz als Lernziel des Fremdsprachenunterrichts
Seit Mitte der 1990er Jahre ist eine zunehmende Internationalisierung
der deutschen Hochschulen und eine damit einhergehende Veränderung der
universitären Kommunikationsstrukturen zu beobachten. Eine Reihe von Maßnahmen,
die dem Bologna-Prozess zuzurechnen sind, haben diese Entwicklung befördert und
vorangetrieben:
· die Einführung international
anerkannter Abschlüsse (Bachelor und Master) mit einem international
vergleichbaren Bewertungssystem (ECTS),
· die Entwicklung
auslandsorientierter Studiengänge mit Englisch als Studiersprache,
· die Förderung internationaler Hochschulpartnerschaften
mit binationalen Studiengängen und Doppel-Diplomen,
· der Ausbau von
Stipendienprogrammen zur Förderung studentischer Mobilität (DAAD 2003).
Diese Maßnahmen haben erheblich dazu beigetragen, dass sich die
internationale Mobilität von Studierenden erhöht hat und Mehrsprachigkeit und
Multikulturalität in den deutschen Hochschulalltag eingezogen sind. 11,5 % aller
Studierenden an deutschen Hochschulen waren im Jahr 2010 Ausländer, davon 3 % Bildungsinländer.
Sie kamen vor allem aus Asien, Osteuropa und Afrika. Im gleichen Jahr
studierten 5,8 % der deutschen Studierenden im Ausland, vorzugsweise in Europa
oder in den Vereinigten Staaten (DAAD / HIS 2011).
Aus dieser Entwicklung ergibt sich für alle an der universitären
Kommunikation Beteiligten die Notwendigkeit, studiumsbezogene interkulturelle
Kompetenzen zu erwerben, denn die Internationalisierung führt dazu, dass
interkulturelle Überschneidungssituationen immer häufiger den Studienalltag bestimmen.
Betroffen sind - wie empirische Studien ergeben haben (Mehlhorn 2005, Leenen /
Groß 2007, Schumann 2011) - vor allem folgende Kommunikationsbereiche:
- Diskurskonventionen und Höflichkeitsnormen in der akademischen Kommunikation, insbesondere in der Beziehung zwischen Studierenden und Dozenten,
- Universitäre Lehr- und Lernstile und damit verbundene Rollenerwartungen an Dozenten und Studierende,
- Wissenschaftliche Textsorten im Rahmen von Leistungsnachweisen und Diskussionsstile in Seminaren,
- Arbeits- und Sozialformen in Seminaren, wie z.B. der Wechsel zwischen Präsentationsphasen und Gruppenarbeitsphasen.
Dem erhöhten Bedarf an Lehrangeboten zur Entwicklung interkultureller
Kompetenzen stehen an den meisten deutschen Hochschulen bislang nur wenige
interkulturelle Trainingsprogramme und Seminare gegenüber. So gibt es z.B.
interkulturell ausgerichtete Vorbereitungskurse auf ein Auslandsstudium oder
Kurse zur Einführung ausländischer Studierender in das deutsche
Hochschulsystem. Auch im Rahmen hochschuldidaktischer Veranstaltungen werden
Workshops zur interkulturellen Kommunikation in der Hochschule angeboten
(Hiller 2010). Als privilegierter Lernort ist jedoch vor allem der universitäre
Fremdsprachenunterricht anzusehen. In ihm wird interkulturelles Lernen als
integraler Bestandteil des kommunikativen Kompetenzerwerbs praktiziert, d.h.
Sprache und Kultur werden als eine Einheit vermittelt. Dabei gelten
Diskursfähigkeit und Partizipation als zentrale Lernziele. Sie bilden die
Grundlage zur Teilnahme an der Interaktion in der Hochschule und umfassen drei
verschiedene Aspekte des Fremdsprachenerwerbs:
- Interaktion als Kommunikation (sprachlich-pragmatischer Aspekt)
- Interaktion als soziale Praxis (soziokultureller Aspekt)
- Interaktion als Sinnkonstruktion und Aushandeln kultureller Bedeutung (mentaler Aspekt)
Diese Verbindung zwischen dem Spracherwerb und der Entwicklung
interkultureller Kompetenzen im Rahmen akademischer Kommunikationssituationen
soll im Zentrum dieses Beitrags stehen.
2
Fremdsprachendidaktische Konzepte interkultureller Kompetenz
Im Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001), der
gemeinsame konzeptionelle Grundlagen für den Fremdsprachenunterrichts in Europa
geschaffen hat, werden vier Dimensionen benannt, die zur Entwicklung einer
kommunikativen interkulturellen Kompetenz führen sollen:
- eine persönlichkeitsbezogene Dimension, savoir être, die die Entwicklung von positiven Einstellungen gegenüber dem Zielsprachenland, Empathie und Respekt, betrifft und die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit fremdkulturellen Perspektiven umfasst,
- eine kognitive Dimension, savoir, die auf die Entwicklung eines kulturspezifischen Wissens über Verhaltensnormen und Wahrnehmungsmuster im Zielsprachenland sowie landeskundliches Orientierungswissen zielt,
- eine handlungsorientierte Dimension, savoir faire, bei der es um die Verknüpfung von kommunikativen Fertigkeiten und sozialen Kompetenzen in der konkreten interkulturellen Begegnungssituation geht,
- eine lernorientierte Dimension, savoir apprendre, die die Fähigkeit beschreibt, mithilfe von zielgerichteten Lernstrategien eine situationsadäquate Kommunikationskompetenz zu erwerben (Schumann 2009: 215f).
In den vergangenen Jahren sind eine Reihe von didaktischen Verfahren
entwickelt worden, die der Umsetzung dieser Konzepte in fremdsprachliches
Lernen dienen. Als Grundvoraussetzungen für den Aufbau interkultureller
Kompetenzen gelten Lernsituationen und Lernarrangements, die zum
interkulturellen Problemlösen und Aushandeln von Bedeutung herausfordern sowie
inhaltliche und lebensweltliche Relevanz besitzen und damit Anknüpfungspunkte
für die Lerner und ihre Erfahrungen bieten. Durch eine geeignete Auswahl von
Lernmaterialien und die Konzeption von Lernaufgaben, die der Komplexität
interkultureller Kommunikationssituationen entsprechen und unterschiedliche,
multiple Perspektiven abbilden, sollen im Fremdsprachenunterricht
Lernsituationen geschaffen werden, die die Entwicklung kommunikativer und
interkultureller Kompetenzen fördern. Ein Verfahren, das für den universitären
Fremdsprachenunterricht besonders geeignet erscheint, weil es die
studiumsbezogene Kommunikation in den Mittelpunkt rückt, ist die Arbeit mit Critical Incidents.
3 Critical Incidents: soziolinguistische und soziokulturelle
Missverständnisse an
der Hochschule
Als Critical Incidents werden
Fallstudien menschlichen Verhaltens in der interkulturellen Kommunikation
bezeichnet. Sie beschreiben Irritationen oder Missverständnisse, die durch
differente Verhaltensnormen und Verhaltenserwartungen der Interaktionspartner
ausgelöst werden. Es handelt sich dabei um kleine narrative Texte, erzählt aus
der subjektiven Sicht eines der Interaktionspartner, die introspektive
Einblicke in die komplexen Zusammenhänge interkultureller Wahrnehmung und Deutung
erlauben. Das persönliche Erleben wird durch die Narration fixiert und auf
diese Weise der Reflexion zugänglich gemacht. Dabei spielen affektive,
kognitive und verhaltensorientierte Aspekte eine Rolle. Zunächst ist die
Irritation als der affektive Auslöser des Critical
Incidents anzusehen: Durch unbewusstes Einordnen des Verhaltens Anderer in
eigenkulturelle Bewertungsmuster kommt es zu Irritationen. Gleichzeitig werden
durch die Differenzerfahrung Reflexions- und Bewusstseinsprozesse ausgelöst,
d.h. die Irritation führt dazu, dass das eigene und das fremde Verhalten
hinterfragt und Überlegungen über die Ursachen des Missverständnisses
angestoßen werden. Daraus können dann Konsequenzen für künftiges Handeln und
das Vermeiden bzw. Überwinden vergleichbarer Missverständnisse abgeleitet
werden.
Im Rahmen eines Forschungsprojektes, das der Analyse der durch
Internalisierungsprozesse bedingten Veränderungen der Kommunikationsstrukturen
in der Hochschule gewidmet war, haben wir studiumsbezogene Critical Incidents gesammelt, ausgewertet und zu
Unterrichtsmaterialien für interkulturelle Trainingseinheiten verarbeitet
(Schumann 2012a). Ziel des Projektes war es, die Integrationsprobleme
internationaler Studierender an deutschen Hochschulen zu erforschen und Typen von
Missverständnissen zu beschreiben, die negative Auswirkungen auf
interkulturelle Kommunikationsverläufe haben und sich störend auf
Studienmotivation und Studienerfolg ausländischer Studierender auswirken
können. Anschließend wurden Konzepte zur Vorbeugung und Überwindung der
Missverständnisse entwickelt, die in Form von komplexen Lernaufgaben im
universitären Fremdsprachenunterricht oder im Rahmen von interkulturellen
Trainings zur Entwicklung und Förderung interkultureller Kompetenzen beitragen
sollen.
Eingebettet war das Projekt in eine umfassende Studie zur
Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium (MUMIS), die an den
Universitäten Siegen, Kassel und Hamburg durchgeführt wurde und neben dem
interkulturellen Forschungsschwerpunkt auch den sprachlichen Studienproblemen
mit Deutsch als Fremdsprache und Englisch als Lingua Franca gewidmet war (Knapp 2012).
4
Praktische
Beispiele der Arbeit mit studiumsbezogenen Critical
Incidents
Incidents
Die Datensammlung enthält 165 Critical
Incidents, die alle zentralen Kommunikationssituationen in der Hochschule
entstammen: Kommunikation in Lehrveranstaltungen, in Sprechstunden, in
studentischen Arbeitsgruppen, in Studentenwohnheimen. Sie wurden mithilfe von
Interviews mit Studierenden und Dozenten gewonnen oder als schriftliche
Berichte von ausländischen und deutschen Studierenden verfasst (Hennig 2012,
Schöning 2012) und beschreiben Interaktionen im Rahmen der Hochschule, die
aufgrund differenter Normerwartungen bei mindestens einem der
Interaktionspartner zu Irritationen geführt haben. Dabei ist der Auslöser für
das Missverständnis meist in Differenzen zwischen der akademischen Kultur an
deutschen Hochschulen und den Gepflogenheiten des akademischen Lebens an den
Herkunftsuniversitäten der ausländischen Studierenden, insbesondere im Bereich
der Lehr- und Lernstile und der Beziehungen zwischen Studierenden und Dozenten,
zu finden. Natürlich können die Critical
Incidents aber auch auf individuelle, non-konformistische Verhaltensweisen
der Interaktionspartner zurückzuführen sein, d.h. neben den kollektiven und
rollenspezifischen Aspekten eines Missverständnisses sind auch situative,
interpersonale und individuelle Faktoren wie Persönlichkeitsmerkmale,
Machtverhältnisse, Zeit-Raum-Verhältnisse etc. zu berücksichtigen.
Die didaktische Arbeit mit den Critical
Incidents setzt bei den kulturellen Unterschieden an: Es geht darum,
Diskussionen über akademische Lernkulturen anzustoßen und die Besonderheiten
der an deutschen Hochschulen gepflegten akademischen Kultur zu erfassen, um die
Ursachen für interkulturelle Missverständnisse zu erkennen und entsprechende,
sprachliche und soziale Verhaltensstrategien entwickeln und trainieren zu
können. Die Verbindung zwischen soziolinguistischen und soziokulturellen
Aspekten der Kommunikation lässt sich dabei am besten mit Critical Incidents zu folgenden Themenbereichen bearbeiten:
- Anredekonventionen und Begrüßungsrituale zwischen Studierenden und Dozenten,
- Diskussionsstile und Diskussionsverhalten in studentischen Arbeitsgruppen,
- Höflichkeitsnormen und Rituale bei der Kontaktaufnahme,
- Verhaltenserwartungen bei Einladungen unter Studierenden,
- Gesprächsstile und Gesprächsführung unter Studierenden.[1]
Jeder Critical Incident ist
mit zwei perspektivischen Fragen ausgestattet, mit deren Hilfe man sich in die
differenten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Interaktionspartner
hineinversetzen und das Geschehen abwechselnd aus verschiedenen Blickwinkeln
betrachten kann. Dabei sollen von den Kursteilnehmern Hypothesen und
verschiedene Interpretationsansätze entwickelt werden. Anschließend werden die
affektiven, kognitiven und handlungsorientierten Aspekte, die den im
Europäischen Referenzrahmen genannten Kategorien savoir être, savoir und savoir faire entsprechen, in die Analyse
einbezogen und schließlich konkrete Handlungsstrategien entworfen.
Anleitung
zur Arbeit mit Critical Incidents
|
Arbeitsphasen
|
Den Critical Incident genau durchlesen und
Hypothesen zu den Ursachen des Missverständnisses aufstellen;
|
Rezeption
|
Sich mit
Hilfe der beiden Fragen abwechselnd in die Perspektive der
Interaktionspartner hineinversetzen;
|
Perspektivische
Dimension
|
Sich
überlegen, auf welcher affektiven Ebene das Missverständnis angesiedelt ist:
Handelt es sich um eine Störung des Verständigungsprozesses, eine Störung des
Beziehungsaufbaus oder eine Verletzung der persönlichen Würde der
Interaktionspartner? Welche Wertorientierungen sind betroffen?
|
Affektive
Dimension
|
Überlegen,
welche strukturellen Unterschiede zwischen der akademischen Kultur an
deutschen Universitäten und der des ausländischen Studierenden Ursache für
das Missverständnis sein können;
|
Kognitive
Dimension
|
Diskutieren
über Strategien zur Vermeidung von Interkulturellen Missverständnissen in der
Hochschule und alternative Dialog- und Handlungsverläufe entwerfen;
|
Handlungsorientierte
Dimension
|
Berichten
von vergleichbaren Situationen und interkulturellen Missverständnissen, die
man selbst erlebt hat.
|
Lernerorientierte
Dimension
|
Tab. 1: Anleitung zur Arbeit mit Critical Incidents[2]
Anhand zweier Beispiele soll die Arbeit mit Critical Incidents genauer erläutert werden:
Beispiel 1:
Kommunikation in einer studentischen Arbeitsgruppe (C11)
José, ein mexikanischer Student,
ist für ein Jahr an einer deutschen Universität eingeschrieben. In einem Seminar
soll er zusammen mit zwei deutschen Studenten ein Projekt vorbereiten. Die drei
Studenten teilen sich die Arbeit untereinander auf und treffen sich nach einer
Woche wieder, um ihre Ergebnisse miteinander zu vergleichen. Der mexikanische
Student hat sich bei seinem Teil der Arbeit die größte Mühe gegeben und ist
davon überzeugt, dass sein Beitrag zur gemeinsamen Arbeit gut geworden ist.
Doch als die drei sich gegenseitig zeigen, was jeder von ihnen gemacht hat,
fallen den deutschen Studenten an Josés Arbeit einige methodische
Ungenauigkeiten auf und einer von beiden weist mit dem Satz: „So kann man das
aber nicht machen!“, explizit darauf hin. José ist empört über diese direkte
Kritik an seiner Arbeit und verlässt beleidigt die Gruppe.
1.
Wie lässt
sich die Wirkung der Kritik des deutschen Kommilitonen auf José erklären?
2.
Wie ist
der Kommunikationsstil der deutschen Studenten zu verstehen?
(www.-mumis-projekt.de/ci; 23.10.2012)
Nach der Lektüre des Critical
Incidents und einem ersten Austausch über Hypothesen zum Verhalten der
Studenten, wird zunächst die perspektivische Dimension des Missverständnisses
bearbeitet, indem Antworten auf die beiden Fragen gesucht werden. Der
mexikanische Student José empfindet die direkte Kritik der deutschen Studenten
an seiner Arbeit vermutlich als Affront, weil er einen personenbezogenen
Gesprächsstil gewohnt ist, bei dem Kritik nur sehr behutsam und eher indirekt
geäußert wird. Da in der mexikanischen Kommunikation Personenorientierung
Vorrang hat vor Sachorientierung, wird direkte Kritik leicht als Angriff auf
die Person gewertet und als beleidigend empfunden. Die deutschen Studenten sind
hingegen einen Gesprächsstil gewöhnt, bei dem die sachbezogene
Auseinandersetzung dominiert und Kritik als Auseinandersetzung mit der Sache
und nicht als Angriff auf den Kommunikationspartner gewertet wird.
Kritikfähigkeit gilt in der akademischen Kultur in Deutschland als ein hohes
Lernziel, für deren Entwicklung Diskussionen in Lehrveranstaltungen und in
Arbeitsgruppen genutzt werden sollten. Es ist zu vermuten, dass die deutschen
Studierenden mit ihrer Kritik vor allem die Verbesserung des gemeinsamen
Produktes der Projektarbeit im Auge haben und nicht damit rechnen, dass der
mexikanische Student sich persönlich angegriffen fühlt (vgl. Kommentar zu C11:
www.mumis-projekt.de/ci).
Die affektive Dimension des Missverständnisses lässt sich damit als
eine Störung des Beziehungsaufbaus bestimmen. Der mexikanische Student
empfindet darüber hinaus vermutlich auch seine persönliche Würde durch die
direkte Kritik verletzt, während die deutschen Studenten sich keiner
Ehrverletzung bewusst sind. Die Ursache für das Missverständnis lässt sich
also, wenn man die kognitive Dimension hinzuzieht, als eine Differenz der
Werteorientierung (Personenorientierung vs. Sachorientierung) und einer
entsprechenden Differenz des Gesprächsverhaltens (direkt und sachorientiert vs.
indirekt und personenorientiert) erklären.
Die Behandlung der handlungsorientierten Dimension bietet schließlich
Gelegenheit, die interkulturellen Aspekte des Critical Incident mit sprachlich-pragmatischen Aufgaben zu
verknüpfen. Das kann zunächst in Form einer lexikalischen Übung geschehen: Wie
wird Höflichkeit sprachlich im Mexikanischen bzw. Spanischen und wie wird sie
im Deutschen realisiert? Wie wird Kritik ausgedrückt und welche sprachliche
Form der Kritik wäre für den mexikanischen Studierenden akzeptabel gewesen? Zu
fragen wäre aber auch, wie José sein Befremden hätte zum Ausdruck bringen
können, statt beleidigt zu gehen, und wie die Studenten sich gegenseitig über
ihre jeweiligen Höflichkeitsnormen informieren könnten. Durch die sprachliche
Realisierung eines alternativen Dialoges können die verschiedenen Aspekte der
Lernaufgabe - also der sprachlich-pragmatische, der interkulturelle und der
mentale Aspekt - zusammengeführt werden.
Zum Abschluss empfiehlt es sich, die Teilnehmer des Kurses von eigenen
Erfahrungen mit differenten Kommunikationsstilen berichten zu lassen, um ihnen
Gelegenheit zu geben, Bezüge zu eigenen Verhaltensmustern herzustellen und das
Missverständnis zu verarbeiten.
Auch im zweiten Beispiel geht es um Diskurskonventionen. Dabei führt
aber nicht so sehr der Gesprächsstil, sondern das Gesprächsthema zu einem
interkulturellen Missverständnis.
Beispiel 2:
Kommunikation zwischen Studierenden (D32)
Lonell, eine US-amerikanische
Studentin, studiert seit einem Jahr an einer deutschen Universität. Sie spricht
gut Deutsch und wird schnell integriert. Bei einem gemütlichen Beisammensein
unter Freunden sind auch einige Studenten zugegen, die Lonell noch nicht kennt.
Ein Geschichtsstudent ist ganz begeistert, als er feststellt, dass Lonell
Amerikanerin ist, und er beginnt, sie in ein intensives Gespräch über
amerikanische Außenpolitik zu verwickeln. Er ist daran interessiert, von einer
Amerikanerin etwas über die Stimmung im Land und die öffentliche Meinung zu
erfahren. Lonell versucht zunächst, amerikanische Standpunkte zu erläutern,
sieht sich aber nach kurzer Zeit durch die offene und heftig geführte
Diskussion, an der sich bald alle beteiligen, in die Enge gedrängt und wird
immer stiller. Schließlich steht sie auf und erklärt in gereiztem und merklich
beleidigtem Tonfall, dass sie keine Lust habe, ihr Land weiter beschimpfen zu
lassen, und geht. Die deutschen Studenten sind bestürzt und verstehen nicht,
warum Lonell die gesellige Runde so plötzlich verlässt. Niemand hat - aus ihrer
Sicht - die Vereinigten Staaten beleidigt.
1. Wie interpretiert die amerikanische Studentin
das Diskussionsverhalten der deutschen Studenten?
2.
Welche
Kommunikationsintentionen bestimmen den Gesprächsstil der deutschen
Studierenden?
(www.mumis-projekt.de/ci)
Die Bearbeitung der perspektivischen Dimension führt zu folgenden
Erkenntnissen: Unter US-Amerikanern werden konfliktreiche Themen -insbesondere
aus dem Bereich der Politik - im geselligen Alltagsgespräch in der Regel
vermieden, um möglichen Kontroversen aus dem Weg zu gehen. Man befürchtet, dass
Meinungsverschiedenheiten das Gesprächsklima zu sehr belasten könnten. Die
amerikanische Studentin ist deshalb kontroverse Auseinandersetzungen unter
Jugendlichen vermutlich nicht gewohnt und empfindet sie als eine Kritik an
Amerika, die sie auch auf sich als Amerikanerin bezieht. In der deutschen
Gesellschaft – insbesondere unter Studierenden - wird es hingegen als
intellektuelle Herausforderung angesehen, seine Meinung zu öffentlichen Themen
in der Diskussion unter Freunden zu vertreten. Besonders bei politischen
Gesprächen entwickelt sich leicht eine Art Wettstreit um die besten Argumente.
Die Freude an der kontroversen Diskussion steigert die Stimmung und erhöht
dadurch nicht selten auch die allgemeine Lautstärke des Gespräches. Die
deutschen Studenten, die in Lonell eine sachkundige Gesprächspartnerin sehen,
kommen vermutlich gar nicht auf die Idee, dass die amerikanische Studentin die
Diskussion als beleidigend empfinden könnte (vgl. Kommentar zu D32:
www.umis-projekt.de/ci).
In diesem Beispiel geht es auf der affektiven Ebene um nationale Ehre,
die von den Interaktionspartnern offensichtlich sehr unterschiedlich definiert
wird. Für die amerikanische Studentin stellt die Politik ihres Landes ein
Tabuthema dar, das man keinesfalls in geselliger Runde mit Leuten bespricht,
die man kaum kennt. Dass dieses Thema dann auch noch zum Gegenstand einer kontroversen
Diskussion wird, empfindet sie als Affront, der sich gegen sie als Amerikanerin
richtet. Dabei scheint auch ein individueller Aspekt eine Rolle zu spielen:
Lonell identifiziert sich mit ihrer Nation und fühlt sich deshalb persönlich
angegriffen. Solche Nationalgefühle sind den meisten deutschen Studierenden
eher fremd und beim Diskutieren über Politik kennen sie kein Tabu. Auf der
kognitiven Ebene ist also festzuhalten, dass sich die US-amerikanischen
Tabubereiche deutlich von denen in Deutschland unterscheiden und dass
kulturelles Wissen über zu vermeidende Themen in der interkulturellen
Kommunikation ein notwendiger Bestandteil landeskundlichen Orientierungswissens
darstellt. Hinzu kommen Differenzen im Kommunikationsstil: Die kontroverse
Diskussion wird von den deutschen Studierenden allein auf den
Gesprächsgegenstand, d.h. die Sache, bezogen und ist nicht persönlich gemeint,
während die amerikanische Studentin bei dem Thema Politik offensichtlich
nicht zwischen Person und Sache unterscheidet.
Wie die Interaktionspartner sich hätten verhalten müssen, um das
Missverständnis zu vermeiden, sollte bei der Bearbeitung der
handlungsorientierten Dimension reflektiert werden. Dazu können sprachliche
Wendungen zur Erkundung von Tabubereichen und zur Verständigung über
unverfängliche Diskussionsthemen erarbeitet und in einen alternativen Dialog
umgesetzt werden. Ein abschließendes Gespräch über Erfahrungen mit
Tabuverletzungen in der interkulturellen Kommunikation macht deutlich, welche
Brisanz in diesem Themenbereich steckt und wie wichtig es ist, sich über Tabus
zu informieren und sie im interkulturellen Gespräch zu vermeiden.
5
Die
Entwicklung interkultureller Kompetenzen mit Critical
Incidents
Lernaufgaben zur Entwicklung interkultureller Kompetenzen sollten nach
Hallet (2006: 79f) eine Reihe von Kriterien erfüllen:
- Sie sind themenorientiert, d.h. ihre Inhalte besitzen lebensweltliche Bedeutung und Relevanz für die Lerner;
- Sie sind multiperspektivisch, d.h. sie berücksichtigen verschiedene Textsorten, die unterschiedliche Zugänge zum Themenbereich wiedergeben und die Repräsentativität sicherstellen;
- Sie sind komplex, d.h. ihre Bearbeitung erfordert die Aktivierung von landeskundlichem und kulturellem Wissen;
- Sie bieten keine einfachen Lösungen, sondern erfordern ein interaktionales Aushandeln von Bedeutung;
- Sie sind ergebnisoffen, d.h. es gibt verschiedene Deutungsmöglichkeiten, die vorab nicht vorhersagbar sind.
Bei der Arbeit mit Critical
Incidents im Fremdsprachenunterricht werden diese Kriterien alle erfüllt
und damit interkulturelle Lernprozesse angestoßen, die sich auf den
spezifischen Kontext studiumsorientierter Kommunikation beziehen und
Erkenntnisse über Differenzen in akademischen Kulturen, insbesondere im Bereich
der Lern- und Lernstile und der Beziehung zwischen Studierenden und Dozenten
befördern. Um die Multiperspektivität der verschiedenen Critical Incidents zu erhöhen und durch Textsortenvielfalt
alternative Zugänge zum Themenbereich der interkulturellen Missverständnisse in
der Hochschule zu eröffnen, empfiehlt es sich, zusätzlich auf informative
Grundlagentexte zur interkulturellen Kommunikation (Lüsebrink 2008, Heringer
2004 oder Erll / Gymnich 2007) zurückzugreifen oder auch mit kurzen
Filmsequenzen zu interkulturellen Missverständnissen zu arbeiten (Grosch / Groß
2005: 259f). Dabei können auch erfahrungsorientierte Übungsformen für die
Entwicklung interaktionaler Aushandlungskompetenzen zu interkultureller
Sensibilisierung und zum Erkenntnisgewinn beitragen (Bosse 2010, Schöning
2012).
Zusammenfassend lässt sich die Förderung interkultureller Kompetenz
durch die Arbeit mit Critical Incidents
im Fremdsprachenunterricht auf drei zentrale Lernprozesse fokussieren:
- Interkulturelle Lernprozesse: Förderung des Wissens über die Zusammenhänge von Sprache und Kultur und die affektiven und kognitiven Aspekte der Kommunikation;
- Sprachlich-pragmatische Lernprozesse: Entwicklung rezeptiver Kompetenzen zur Verständnissicherung und Aufbau kommunikativer Handlungskompetenzen;
- Lernerorientierte Lernprozesse: Entwicklung von Interaktionsstrategien durch die Reflexion eigenkultureller Erfahrungen und die Kontextualisierung von Missverständnissen.
Diskursfähigkeit und Partizipationskompetenz erwachsen bei der Arbeit
mit Critical Incidents auf diese
Weise aus der Sensibilisierung für interkulturelle Differenzen in der
Kommunikation, aus dem Wissenserwerb über die Besonderheiten akademischer
Kulturen und die Entwicklung von Interaktionsstrategien für die praktische
Bewältigung des Hochschulalltags.
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