Wissenschaftlicher Sammelband, herausgegeben von Thomas Tinnefeld unter Mitarbeit von Ines-A. Busch-Lauer, Hans Giessen, Michael Langner, Adelheid Schumann. Saarbrücken: htw saar 2012. ISBN 978-3-942949-00-2.


Die Entwicklung studiumsbezogener interkultureller Kompetenzen im universitären Fremdsprachenunterricht

Adelheid Schumann (Siegen)


Abstract (English)
The internationalization of higher education in Germany has led to changes in academic communication structures. For all actors of university life – students, lecturers and administrators – the acquisition of intercultural competences has therefore become necessary. In university language courses, these competences may be acquired through intercultural training programs based on the work with critical incidents (CIs). CIs can be used as stimuli for the reflection of typical and frequent misunderstandings occurring in academic communication contexts. The following article presents a training method which aims to foster intercultural competences in language learning settings. The focus is on discourse conventions like forms of addressing and welcoming, norms of politeness when getting into contact with somebody, conversation styles, conversation topics, and taboo topics.
Key words:     Internationalisation of universities, intercultural communication, critical-incident training

Abstract (Deutsch)
Die Internationalisierung der deutschen Hochschulen hat zu Veränderungen der universitären Kommunikationsstrukturen geführt. Für alle Akteure des Hochschulalltags - Studierende, Dozenten und Administratoren - ist es dadurch notwendig geworden, über interkulturelle Kompetenzen zu verfügen. Für den Erwerb dieser Kompetenzen im Rahmen des universitären Fremdsprachenunterrichts bietet sich die Arbeit mit ausgewählten Critical Incidents an, die typische und häufige Missverständnisse in der studiumsbezogenen Kommunikation abbilden. Vorgestellt wird in diesem Beitrag ein didaktisches Modell, in dem der Erwerb interkultureller Kompetenzen mit der Erlernung der deutschen Sprache verbunden wird und Diskurskonventionen wie Anredeformen und Begrüßungsrituale, Höflichkeitsnormen bei der Kontaktaufnahme, Gesprächsstile und Gesprächsführung, Gesprächsthemen und Tabuverletzungen im Mittelpunkt stehen.
Stichwörter:    Internationalisierung der Hochschule, Interkulturelle Kommunikation, Training mit Critical Incidents




1        Interkulturelle Kompetenz als Lernziel des Fremdsprachenunterrichts

Seit Mitte der 1990er Jahre ist eine zunehmende Internationalisierung der deutschen Hochschulen und eine damit einhergehende Veränderung der universitären Kommunikationsstrukturen zu beobachten. Eine Reihe von Maßnahmen, die dem Bologna-Prozess zuzurechnen sind, haben diese Entwicklung befördert und vorangetrieben:
·     die Einführung international anerkannter Abschlüsse (Bachelor und Master) mit einem international vergleichbaren Bewertungssystem (ECTS),
·      die Entwicklung auslandsorientierter Studiengänge mit Englisch als Studiersprache,
· die Förderung internationaler Hochschulpartnerschaften mit binationalen Studiengängen und Doppel-Diplomen,
·   der Ausbau von Stipendienprogrammen zur Förderung studentischer Mobilität (DAAD 2003).

Diese Maßnahmen haben erheblich dazu beigetragen, dass sich die internationale Mobilität von Studierenden erhöht hat und Mehrsprachigkeit und Multikulturalität in den deutschen Hochschulalltag eingezogen sind. 11,5 % aller Studierenden an deutschen Hochschulen waren im Jahr 2010 Ausländer, davon 3 % Bildungsinländer. Sie kamen vor allem aus Asien, Osteuropa und Afrika. Im gleichen Jahr studierten 5,8 % der deutschen Studierenden im Ausland, vorzugsweise in Europa oder in den Vereinigten Staaten (DAAD / HIS 2011).

Aus dieser Entwicklung ergibt sich für alle an der universitären Kommunikation Beteiligten die Notwendigkeit, studiumsbezogene interkulturelle Kompetenzen zu erwerben, denn die Internationalisierung führt dazu, dass interkulturelle Überschneidungssituationen immer häufiger den Studienalltag bestimmen. Betroffen sind - wie empirische Studien ergeben haben (Mehlhorn 2005, Leenen / Groß 2007, Schumann 2011) - vor allem folgende Kommunikationsbereiche:
  • Diskurskonventionen und Höflichkeitsnormen in der akademischen Kommunikation, insbesondere in der Beziehung zwischen Studierenden und Dozenten,
  • Universitäre Lehr- und Lernstile und damit verbundene Rollenerwartungen an Dozenten und Studierende,
  • Wissenschaftliche Textsorten im Rahmen von Leistungsnachweisen und Diskussionsstile in Seminaren,
  • Arbeits- und Sozialformen in Seminaren, wie z.B. der Wechsel zwischen Präsentationsphasen und Gruppenarbeitsphasen.
Dem erhöhten Bedarf an Lehrangeboten zur Entwicklung interkultureller Kompetenzen stehen an den meisten deutschen Hochschulen bislang nur wenige interkulturelle Trainingsprogramme und Seminare gegenüber. So gibt es z.B. interkulturell ausgerichtete Vorbereitungskurse auf ein Auslandsstudium oder Kurse zur Einführung ausländischer Studierender in das deutsche Hochschulsystem. Auch im Rahmen hochschuldidaktischer Veranstaltungen werden Workshops zur interkulturellen Kommunikation in der Hochschule angeboten (Hiller 2010). Als privilegierter Lernort ist jedoch vor allem der universitäre Fremdsprachenunterricht anzusehen. In ihm wird interkulturelles Lernen als integraler Bestandteil des kommunikativen Kompetenzerwerbs praktiziert, d.h. Sprache und Kultur werden als eine Einheit vermittelt. Dabei gelten Diskursfähigkeit und Partizipation als zentrale Lernziele. Sie bilden die Grundlage zur Teilnahme an der Interaktion in der Hochschule und umfassen drei verschiedene Aspekte des Fremdsprachenerwerbs:
  • Interaktion als Kommunikation (sprachlich-pragmatischer Aspekt)
  • Interaktion als soziale Praxis (soziokultureller Aspekt)
  • Interaktion als Sinnkonstruktion und Aushandeln kultureller Bedeutung (mentaler Aspekt)
Diese Verbindung zwischen dem Spracherwerb und der Entwicklung interkultureller Kompetenzen im Rahmen akademischer Kommunikationssituationen soll im Zentrum dieses Beitrags stehen.


2   Fremdsprachendidaktische Konzepte interkultureller Kompetenz

Im Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001), der gemeinsame konzeptionelle Grundlagen für den Fremdsprachenunterrichts in Europa geschaffen hat, werden vier Dimensionen benannt, die zur Entwicklung einer kommunikativen interkulturellen Kompetenz führen sollen:
  • eine persönlichkeitsbezogene Dimension, savoir être, die die Entwicklung von positiven Einstellungen gegenüber dem Zielsprachenland, Empathie und Respekt, betrifft und die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit fremdkulturellen Perspektiven umfasst,
  • eine kognitive Dimension, savoir, die auf die Entwicklung eines kulturspezifischen Wissens über Verhaltensnormen und Wahrnehmungsmuster im Zielsprachenland sowie landeskundliches Orientierungswissen zielt,
  • eine handlungsorientierte Dimension, savoir faire, bei der es um die Verknüpfung von kommunikativen Fertigkeiten und sozialen Kompetenzen in der konkreten interkulturellen Begegnungssituation geht,
  • eine lernorientierte Dimension, savoir apprendre, die die Fähigkeit beschreibt, mithilfe von zielgerichteten Lernstrategien eine situationsadäquate Kommunikationskompetenz zu erwerben (Schumann 2009: 215f).
In den vergangenen Jahren sind eine Reihe von didaktischen Verfahren entwickelt worden, die der Umsetzung dieser Konzepte in fremdsprachliches Lernen dienen. Als Grundvoraussetzungen für den Aufbau interkultureller Kompetenzen gelten Lernsituationen und Lernarrangements, die zum interkulturellen Problemlösen und Aushandeln von Bedeutung herausfordern sowie inhaltliche und lebensweltliche Relevanz besitzen und damit Anknüpfungspunkte für die Lerner und ihre Erfahrungen bieten. Durch eine geeignete Auswahl von Lernmaterialien und die Konzeption von Lernaufgaben, die der Komplexität interkultureller Kommunikationssituationen entsprechen und unterschiedliche, multiple Perspektiven abbilden, sollen im Fremdsprachenunterricht Lernsituationen geschaffen werden, die die Entwicklung kommunikativer und interkultureller Kompetenzen fördern. Ein Verfahren, das für den universitären Fremdsprachenunterricht besonders geeignet erscheint, weil es die studiumsbezogene Kommunikation in den Mittelpunkt rückt, ist die Arbeit mit Critical Incidents.


3   Critical Incidents: soziolinguistische und soziokulturelle  
     Missverständnisse an der Hochschule

Als Critical Incidents werden Fallstudien menschlichen Verhaltens in der interkulturellen Kommunikation bezeichnet. Sie beschreiben Irritationen oder Missverständnisse, die durch differente Verhaltensnormen und Verhaltenserwartungen der Interaktionspartner ausgelöst werden. Es handelt sich dabei um kleine narrative Texte, erzählt aus der subjektiven Sicht eines der Interaktionspartner, die introspektive Einblicke in die komplexen Zusammenhänge interkultureller Wahrnehmung und Deutung erlauben. Das persönliche Erleben wird durch die Narration fixiert und auf diese Weise der Reflexion zugänglich gemacht. Dabei spielen affektive, kognitive und verhaltensorientierte Aspekte eine Rolle. Zunächst ist die Irritation als der affektive Auslöser des Critical Incidents anzusehen: Durch unbewusstes Einordnen des Verhaltens Anderer in eigenkulturelle Bewertungsmuster kommt es zu Irritationen. Gleichzeitig werden durch die Differenzerfahrung Reflexions- und Bewusstseinsprozesse ausgelöst, d.h. die Irritation führt dazu, dass das eigene und das fremde Verhalten hinterfragt und Überlegungen über die Ursachen des Missverständnisses angestoßen werden. Daraus können dann Konsequenzen für künftiges Handeln und das Vermeiden bzw. Überwinden vergleichbarer Missverständnisse abgeleitet werden.

Im Rahmen eines Forschungsprojektes, das der Analyse der durch Internalisierungsprozesse bedingten Veränderungen der Kommunikationsstrukturen in der Hochschule gewidmet war, haben wir studiumsbezogene Critical Incidents gesammelt, ausgewertet und zu Unterrichtsmaterialien für interkulturelle Trainingseinheiten verarbeitet (Schumann 2012a). Ziel des Projektes war es, die Integrationsprobleme internationaler Studierender an deutschen Hochschulen zu erforschen und Typen von Missverständnissen zu beschreiben, die negative Auswirkungen auf interkulturelle Kommunikationsverläufe haben und sich störend auf Studienmotivation und Studienerfolg ausländischer Studierender auswirken können. Anschließend wurden Konzepte zur Vorbeugung und Überwindung der Missverständnisse entwickelt, die in Form von komplexen Lernaufgaben im universitären Fremdsprachenunterricht oder im Rahmen von interkulturellen Trainings zur Entwicklung und Förderung interkultureller Kompetenzen beitragen sollen.

Eingebettet war das Projekt in eine umfassende Studie zur Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium (MUMIS), die an den Universitäten Siegen, Kassel und Hamburg durchgeführt wurde und neben dem interkulturellen Forschungsschwerpunkt auch den sprachlichen Studienproblemen mit Deutsch als Fremdsprache und Englisch als Lingua Franca gewidmet war (Knapp 2012).


4        Praktische Beispiele der Arbeit mit studiumsbezogenen Critical
 Incidents

Die Datensammlung enthält 165 Critical Incidents, die alle zentralen Kommunikationssituationen in der Hochschule entstammen: Kommunikation in Lehrveranstaltungen, in Sprechstunden, in studentischen Arbeitsgruppen, in Studentenwohnheimen. Sie wurden mithilfe von Interviews mit Studierenden und Dozenten gewonnen oder als schriftliche Berichte von ausländischen und deutschen Studierenden verfasst (Hennig 2012, Schöning 2012) und beschreiben Interaktionen im Rahmen der Hochschule, die aufgrund differenter Normerwartungen bei mindestens einem der Interaktionspartner zu Irritationen geführt haben. Dabei ist der Auslöser für das Missverständnis meist in Differenzen zwischen der akademischen Kultur an deutschen Hochschulen und den Gepflogenheiten des akademischen Lebens an den Herkunftsuniversitäten der ausländischen Studierenden, insbesondere im Bereich der Lehr- und Lernstile und der Beziehungen zwischen Studierenden und Dozenten, zu finden. Natürlich können die Critical Incidents aber auch auf individuelle, non-konformistische Verhaltensweisen der Interaktionspartner zurückzuführen sein, d.h. neben den kollektiven und rollenspezifischen Aspekten eines Missverständnisses sind auch situative, interpersonale und individuelle Faktoren wie Persönlichkeitsmerkmale, Machtverhältnisse, Zeit-Raum-Verhältnisse etc. zu berücksichtigen.

Die didaktische Arbeit mit den Critical Incidents setzt bei den kulturellen Unterschieden an: Es geht darum, Diskussionen über akademische Lernkulturen anzustoßen und die Besonderheiten der an deutschen Hochschulen gepflegten akademischen Kultur zu erfassen, um die Ursachen für interkulturelle Missverständnisse zu erkennen und entsprechende, sprachliche und soziale Verhaltensstrategien entwickeln und trainieren zu können. Die Verbindung zwischen soziolinguistischen und soziokulturellen Aspekten der Kommunikation lässt sich dabei am besten mit Critical Incidents zu folgenden Themenbereichen bearbeiten:
  • Anredekonventionen und Begrüßungsrituale zwischen Studierenden und Dozenten,
  • Diskussionsstile und Diskussionsverhalten in studentischen Arbeitsgruppen,
  • Höflichkeitsnormen und Rituale bei der Kontaktaufnahme,
  • Verhaltenserwartungen bei Einladungen unter Studierenden,
  • Gesprächsstile und Gesprächsführung unter Studierenden.[1]
Jeder Critical Incident ist mit zwei perspektivischen Fragen ausgestattet, mit deren Hilfe man sich in die differenten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Interaktionspartner hineinversetzen und das Geschehen abwechselnd aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten kann. Dabei sollen von den Kursteilnehmern Hypothesen und verschiedene Interpretationsansätze entwickelt werden. Anschließend werden die affektiven, kognitiven und handlungsorientierten Aspekte, die den im Europäischen Referenzrahmen genannten Kategorien savoir être, savoir und savoir faire entsprechen, in die Analyse einbezogen und schließlich konkrete Handlungsstrategien entworfen.          


Anleitung zur Arbeit mit Critical Incidents


Arbeitsphasen

Den Critical Incident genau durchlesen und Hypothesen zu den Ursachen des Missverständnisses aufstellen;


Rezeption

Sich mit Hilfe der beiden Fragen abwechselnd in die Perspektive der Interaktionspartner hineinversetzen;


Perspektivische Dimension

Sich überlegen, auf welcher affektiven Ebene das Missverständnis angesiedelt ist: Handelt es sich um eine Störung des Verständigungsprozesses, eine Störung des Beziehungsaufbaus oder eine Verletzung der persönlichen Würde der Interaktionspartner? Welche Wertorientierungen sind betroffen?


Affektive Dimension

Überlegen, welche strukturellen Unterschiede zwischen der akademischen Kultur an deutschen Universitäten und der des ausländischen Studierenden Ursache für das Missverständnis sein können;


Kognitive Dimension

Diskutieren über Strategien zur Vermeidung von Interkulturellen Missverständnissen in der Hochschule und alternative Dialog- und Handlungsverläufe entwerfen;


Handlungsorientierte Dimension

Berichten von vergleichbaren Situationen und interkulturellen Missverständnissen, die man selbst erlebt hat.


Lernerorientierte Dimension
Tab. 1: Anleitung zur Arbeit mit Critical Incidents[2]

Anhand zweier Beispiele soll die Arbeit mit Critical Incidents genauer erläutert werden:

Beispiel 1: Kommunikation in einer studentischen Arbeitsgruppe (C11)

José, ein mexikanischer Student, ist für ein Jahr an einer deutschen Universität eingeschrieben. In einem Seminar soll er zusammen mit zwei deutschen Studenten ein Projekt vorbereiten. Die drei Studenten teilen sich die Arbeit untereinander auf und treffen sich nach einer Woche wieder, um ihre Ergebnisse miteinander zu vergleichen. Der mexikanische Student hat sich bei seinem Teil der Arbeit die größte Mühe gegeben und ist davon überzeugt, dass sein Beitrag zur gemeinsamen Arbeit gut geworden ist. Doch als die drei sich gegenseitig zeigen, was jeder von ihnen gemacht hat, fallen den deutschen Studenten an Josés Arbeit einige methodische Ungenauigkeiten auf und einer von beiden weist mit dem Satz: „So kann man das aber nicht machen!“, explizit darauf hin. José ist empört über diese direkte Kritik an seiner Arbeit und verlässt beleidigt die Gruppe.
1.       Wie lässt sich die Wirkung der Kritik des deutschen Kommilitonen auf José erklären?
2.       Wie ist der Kommunikationsstil der deutschen Studenten zu verstehen?
      (www.-mumis-projekt.de/ci; 23.10.2012)

Nach der Lektüre des Critical Incidents und einem ersten Austausch über Hypothesen zum Verhalten der Studenten, wird zunächst die perspektivische Dimension des Missverständnisses bearbeitet, indem Antworten auf die beiden Fragen gesucht werden. Der mexikanische Student José empfindet die direkte Kritik der deutschen Studenten an seiner Arbeit vermutlich als Affront, weil er einen personenbezogenen Gesprächsstil gewohnt ist, bei dem Kritik nur sehr behutsam und eher indirekt geäußert wird. Da in der mexikanischen Kommunikation Personenorientierung Vorrang hat vor Sachorientierung, wird direkte Kritik leicht als Angriff auf die Person gewertet und als beleidigend empfunden. Die deutschen Studenten sind hingegen einen Gesprächsstil gewöhnt, bei dem die sachbezogene Auseinandersetzung dominiert und Kritik als Auseinandersetzung mit der Sache und nicht als Angriff auf den Kommunikationspartner gewertet wird. Kritikfähigkeit gilt in der akademischen Kultur in Deutschland als ein hohes Lernziel, für deren Entwicklung Diskussionen in Lehrveranstaltungen und in Arbeitsgruppen genutzt werden sollten. Es ist zu vermuten, dass die deutschen Studierenden mit ihrer Kritik vor allem die Verbesserung des gemeinsamen Produktes der Projektarbeit im Auge haben und nicht damit rechnen, dass der mexikanische Student sich persönlich angegriffen fühlt (vgl. Kommentar zu C11: www.mumis-projekt.de/ci).

Die affektive Dimension des Missverständnisses lässt sich damit als eine Störung des Beziehungsaufbaus bestimmen. Der mexikanische Student empfindet darüber hinaus vermutlich auch seine persönliche Würde durch die direkte Kritik verletzt, während die deutschen Studenten sich keiner Ehrverletzung bewusst sind. Die Ursache für das Missverständnis lässt sich also, wenn man die kognitive Dimension hinzuzieht, als eine Differenz der Werteorientierung (Personenorientierung vs. Sachorientierung) und einer entsprechenden Differenz des Gesprächsverhaltens (direkt und sachorientiert vs. indirekt und personenorientiert) erklären.

Die Behandlung der handlungsorientierten Dimension bietet schließlich Gelegenheit, die interkulturellen Aspekte des Critical Incident mit sprachlich-pragmatischen Aufgaben zu verknüpfen. Das kann zunächst in Form einer lexikalischen Übung geschehen: Wie wird Höflichkeit sprachlich im Mexikanischen bzw. Spanischen und wie wird sie im Deutschen realisiert? Wie wird Kritik ausgedrückt und welche sprachliche Form der Kritik wäre für den mexikanischen Studierenden akzeptabel gewesen? Zu fragen wäre aber auch, wie José sein Befremden hätte zum Ausdruck bringen können, statt beleidigt zu gehen, und wie die Studenten sich gegenseitig über ihre jeweiligen Höflichkeitsnormen informieren könnten. Durch die sprachliche Realisierung eines alternativen Dialoges können die verschiedenen Aspekte der Lernaufgabe - also der sprachlich-pragmatische, der interkulturelle und der mentale Aspekt - zusammengeführt werden.

Zum Abschluss empfiehlt es sich, die Teilnehmer des Kurses von eigenen Erfahrungen mit differenten Kommunikationsstilen berichten zu lassen, um ihnen Gelegenheit zu geben, Bezüge zu eigenen Verhaltensmustern herzustellen und das Missverständnis zu verarbeiten.

Auch im zweiten Beispiel geht es um Diskurskonventionen. Dabei führt aber nicht so sehr der Gesprächsstil, sondern das Gesprächsthema zu einem interkulturellen Missverständnis.

Beispiel 2: Kommunikation zwischen Studierenden (D32)

Lonell, eine US-amerikanische Studentin, studiert seit einem Jahr an einer deutschen Universität. Sie spricht gut Deutsch und wird schnell integriert. Bei einem gemütlichen Beisammensein unter Freunden sind auch einige Studenten zugegen, die Lonell noch nicht kennt. Ein Geschichtsstudent ist ganz begeistert, als er feststellt, dass Lonell Amerikanerin ist, und er beginnt, sie in ein intensives Gespräch über amerikanische Außenpolitik zu verwickeln. Er ist daran interessiert, von einer Amerikanerin etwas über die Stimmung im Land und die öffentliche Meinung zu erfahren. Lonell versucht zunächst, amerikanische Standpunkte zu erläutern, sieht sich aber nach kurzer Zeit durch die offene und heftig geführte Diskussion, an der sich bald alle beteiligen, in die Enge gedrängt und wird immer stiller. Schließlich steht sie auf und erklärt in gereiztem und merklich beleidigtem Tonfall, dass sie keine Lust habe, ihr Land weiter beschimpfen zu lassen, und geht. Die deutschen Studenten sind bestürzt und verstehen nicht, warum Lonell die gesellige Runde so plötzlich verlässt. Niemand hat - aus ihrer Sicht - die Vereinigten Staaten beleidigt.
1.       Wie interpretiert die amerikanische Studentin das Diskussionsverhalten der deutschen Studenten?
2.       Welche Kommunikationsintentionen bestimmen den Gesprächsstil der deutschen Studierenden?
      (www.mumis-projekt.de/ci) 

Die Bearbeitung der perspektivischen Dimension führt zu folgenden Erkenntnissen: Unter US-Amerikanern werden konfliktreiche Themen -insbesondere aus dem Bereich der Politik - im geselligen Alltagsgespräch in der Regel vermieden, um möglichen Kontroversen aus dem Weg zu gehen. Man befürchtet, dass Meinungsverschiedenheiten das Gesprächsklima zu sehr belasten könnten. Die amerikanische Studentin ist deshalb kontroverse Auseinandersetzungen unter Jugendlichen vermutlich nicht gewohnt und empfindet sie als eine Kritik an Amerika, die sie auch auf sich als Amerikanerin bezieht. In der deutschen Gesellschaft – insbesondere unter Studierenden - wird es hingegen als intellektuelle Herausforderung angesehen, seine Meinung zu öffentlichen Themen in der Diskussion unter Freunden zu vertreten. Besonders bei politischen Gesprächen entwickelt sich leicht eine Art Wettstreit um die besten Argumente. Die Freude an der kontroversen Diskussion steigert die Stimmung und erhöht dadurch nicht selten auch die allgemeine Lautstärke des Gespräches. Die deutschen Studenten, die in Lonell eine sachkundige Gesprächspartnerin sehen, kommen vermutlich gar nicht auf die Idee, dass die amerikanische Studentin die Diskussion als beleidigend empfinden könnte (vgl. Kommentar zu D32: www.umis-projekt.de/ci).

In diesem Beispiel geht es auf der affektiven Ebene um nationale Ehre, die von den Interaktionspartnern offensichtlich sehr unterschiedlich definiert wird. Für die amerikanische Studentin stellt die Politik ihres Landes ein Tabuthema dar, das man keinesfalls in geselliger Runde mit Leuten bespricht, die man kaum kennt. Dass dieses Thema dann auch noch zum Gegenstand einer kontroversen Diskussion wird, empfindet sie als Affront, der sich gegen sie als Amerikanerin richtet. Dabei scheint auch ein individueller Aspekt eine Rolle zu spielen: Lonell identifiziert sich mit ihrer Nation und fühlt sich deshalb persönlich angegriffen. Solche Nationalgefühle sind den meisten deutschen Studierenden eher fremd und beim Diskutieren über Politik kennen sie kein Tabu. Auf der kognitiven Ebene ist also festzuhalten, dass sich die US-amerikanischen Tabubereiche deutlich von denen in Deutschland unterscheiden und dass kulturelles Wissen über zu vermeidende Themen in der interkulturellen Kommunikation ein notwendiger Bestandteil landeskundlichen Orientierungswissens darstellt. Hinzu kommen Differenzen im Kommunikationsstil: Die kontroverse Diskussion wird von den deutschen Studierenden allein auf den Gesprächsgegenstand, d.h. die Sache, bezogen und ist nicht persönlich gemeint, während die amerikanische Studentin bei dem Thema Politik offensichtlich nicht zwischen Person und Sache unterscheidet.

Wie die Interaktionspartner sich hätten verhalten müssen, um das Missverständnis zu vermeiden, sollte bei der Bearbeitung der handlungsorientierten Dimension reflektiert werden. Dazu können sprachliche Wendungen zur Erkundung von Tabubereichen und zur Verständigung über unverfängliche Diskussionsthemen erarbeitet und in einen alternativen Dialog umgesetzt werden. Ein abschließendes Gespräch über Erfahrungen mit Tabuverletzungen in der interkulturellen Kommunikation macht deutlich, welche Brisanz in diesem Themenbereich steckt und wie wichtig es ist, sich über Tabus zu informieren und sie im interkulturellen Gespräch zu vermeiden.


5        Die Entwicklung interkultureller Kompetenzen mit Critical
 Incidents

Lernaufgaben zur Entwicklung interkultureller Kompetenzen sollten nach Hallet (2006: 79f) eine Reihe von Kriterien erfüllen:
  • Sie sind themenorientiert, d.h. ihre Inhalte besitzen lebensweltliche Bedeutung und Relevanz für die Lerner;
  • Sie sind multiperspektivisch, d.h. sie berücksichtigen verschiedene Textsorten, die unterschiedliche Zugänge zum Themenbereich wiedergeben und die Repräsentativität sicherstellen;
  • Sie sind komplex, d.h. ihre Bearbeitung erfordert die Aktivierung von landeskundlichem und kulturellem Wissen;
  • Sie bieten keine einfachen Lösungen, sondern erfordern ein interaktionales Aushandeln von Bedeutung;
  • Sie sind ergebnisoffen, d.h. es gibt verschiedene Deutungsmöglichkeiten, die vorab nicht vorhersagbar sind.
Bei der Arbeit mit Critical Incidents im Fremdsprachenunterricht werden diese Kriterien alle erfüllt und damit interkulturelle Lernprozesse angestoßen, die sich auf den spezifischen Kontext studiumsorientierter Kommunikation beziehen und Erkenntnisse über Differenzen in akademischen Kulturen, insbesondere im Bereich der Lern- und Lernstile und der Beziehung zwischen Studierenden und Dozenten befördern. Um die Multiperspektivität der verschiedenen Critical Incidents zu erhöhen und durch Textsortenvielfalt alternative Zugänge zum Themenbereich der interkulturellen Missverständnisse in der Hochschule zu eröffnen, empfiehlt es sich, zusätzlich auf informative Grundlagentexte zur interkulturellen Kommunikation (Lüsebrink 2008, Heringer 2004 oder Erll / Gymnich 2007) zurückzugreifen oder auch mit kurzen Filmsequenzen zu interkulturellen Missverständnissen zu arbeiten (Grosch / Groß 2005: 259f). Dabei können auch erfahrungsorientierte Übungsformen für die Entwicklung interaktionaler Aushandlungskompetenzen zu interkultureller Sensibilisierung und zum Erkenntnisgewinn beitragen (Bosse 2010, Schöning 2012).

Zusammenfassend lässt sich die Förderung interkultureller Kompetenz durch die Arbeit mit Critical Incidents im Fremdsprachenunterricht auf drei zentrale Lernprozesse fokussieren:
  • Interkulturelle Lernprozesse: Förderung des Wissens über die Zusammenhänge von Sprache und Kultur und die affektiven und kognitiven Aspekte der Kommunikation;
  • Sprachlich-pragmatische Lernprozesse: Entwicklung rezeptiver Kompetenzen zur Verständnissicherung und Aufbau kommunikativer Handlungskompetenzen;
  • Lernerorientierte Lernprozesse: Entwicklung von Interaktionsstrategien durch die Reflexion eigenkultureller Erfahrungen und die Kontextualisierung von Missverständnissen.
Diskursfähigkeit und Partizipationskompetenz erwachsen bei der Arbeit mit Critical Incidents auf diese Weise aus der Sensibilisierung für interkulturelle Differenzen in der Kommunikation, aus dem Wissenserwerb über die Besonderheiten akademischer Kulturen und die Entwicklung von Interaktionsstrategien für die praktische Bewältigung des Hochschulalltags.



Bibliographie

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Grosch, Harald & Groß, Andreas (2005). Entwicklung spezifischer Vermittlungsformen und Medien. In: Leenen, Rainer , Grosch, Harald & Groß, Andreas (Hrsg.) (2005). Bausteine zur interkulturellen Qualifizierung der Polizei. Münster: Waxmann, 227-272.

Hallet, Wolfgang (2006). Tasks in kulturwissenschaftlicher Perspektive: kulturelle Partizipation und die Modellierung kultureller Diskurse durch Tasks. In: Bausch, Karl-Richard , Burwitz-Melzer, Eva , Königs, Frank G. & Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.) (2006). Aufgabenorientierung als Aufgabe. Tübingen: Narr, 72-83.

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Heringer, Hans Jürgen (2004). Interkulturelle Kommunikation. Tübingen / Basel: Francke.

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Leenen, Rainer / Groß, Andreas (2007): Internationalisierung aus interkultureller Sicht: Diversitätspotenziale der Hochschule. In: Otten, Matthias / Scheitza, Alexander / Cnyrim, Andrea (Hrsg.) (2007). Interkulturelle Kompetenz im Wandel. Bd. 2: Ausbildung, Training und Beratung. Frankfurt / Main: IKO - Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 185-214.

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[1]  Alle Critical Incidents der Sammlung mit Übungsanleitung und Kommentaren sind online verfügbar unter www.mumis-projekt.de/ci (vgl. auch Moll 2012).

[2]     Zu Arbeitsmaterialien zum interkulturellen Training mit Critical Incidents vgl. Schumann 2012b.