Wissenschaftlicher Sammelband, herausgegeben von Thomas Tinnefeld unter Mitarbeit von Ines-A. Busch-Lauer, Hans Giessen, Michael Langner, Adelheid Schumann. Saarbrücken: htw saar 2012. ISBN 978-3-942949-00-2.


Vom Lerner zum Lehrer –
Perspektivenwechsel als fachdidaktische Aufgabe


Ina Karg (Göttingen)


Abstract (English)
Foreign language students have certain suppositions and expectations. Taking these as a basis, this paper aims at explaining the change of perspective which consists in observing student teachers’ own learning processes so as to enable them to accompany their future students’ learning processes. The paper emphasises the inevitable necessity of academic studies as a condition sine qua non for performing the job of a teacher. This demand is exemplified by the areas of reading and text comprehension, with a methodological experiment serving as the starting point and as a guideline of the paper which focuses on teacher training programmes.
Key words: teacher training, learning processes


Abstract (Deutsch)
Ausgehend von den Voraussetzungen und Erwartungen der Studierenden in einem Fremdsprachenstudium wird im Beitrag der Perspektivenwechsel aufgezeigt, der darin besteht, den eigenen Lernprozess wahrzunehmen, um später als Lehrperson die Lerner bei ihren Lernwegen begleiten zu können. Betont wird dabei der wissenschaftliche Anspruch eines Studiums als unverzichtbare Voraussetzung für die spätere Lehrtätigkeit. Als Veranschaulichung dient der Bereich des Lese- und Textverstehens: Ein didaktisches Experiment für den Leser dient als Auftakt und als Leitgedanke für den gesamten Beitrag. Im Blick sind Studierende des Lehramts an Gymnasien bzw. der Sekundarstufe II.
Stichwörter: Lehrerausbildung, Lernprozesse



  

1  Die Lektüre fremdsprachlicher Texte - ein didaktisches Experiment

Im Rahmen des in dem vorliegenden Beitrag von uns analysierten Weges vom Lerner zum Lehrer wollen wir von einem Experiment ausgehen, in dem die folgenden drei Textausschnitte eine zentrale Rolle spielen. Für diese Textausschnitte werden zunächst absichtlich weder die Quellen noch die Erscheinungsdaten genannt. Auch die Schwärzungen sind mit Absicht vorgenommen worden:

Text 1
Trycket blev till slut för stort. I går avgick Tysklands försvarsminister XXXXXXXXXXXXXX efter avslöjanden om grovt fusk och plagiat i sin doktorsavhandling – en chock för  XXXXXXXXXXXXXX regering där Tysklands mest populära politiker är en stöttepelare.

Text 2
Věštili mu kancléřskou budoucnost. Kvůli opsané disertaci ale XXXXXXXXXXXXXXrXX odchází z vlády - BERLÍN/PRAHA Po schodech v berlínské budově ministerstva obrany sestoupil sám. O několik minut později stejnou cestou odešel. Opět sám. V mezidobí XXXXXXXXXXXXXX oznámil, že rezignuje na vládní post.

Text 3
Saksan puolustusministeri XXXXXXXXXXXXXX erosi tehtävästään. XXXXXXXXXX ilmoitti asiasta aamupäivällä. Oppositio on vaatinut XXXXXXXXXX eroa sen jälkeen, kun kävi ilmi, että ministeri oli lainaillut lukuisia osia väitöskirjastaan muilta kirjoittajilta mainitsematta lähteitä.

Wird ein Leser mit diesen drei Texten konfrontiert, so fallen ihm vermutlich als Erstes in Text 2 die Ortsnamen Berlin und Praha auf. Identifiziert er sie als Hauptstädte zweier mitteleuro­päischer Staaten, so nutzt er damit sein geographisches und in gewisser Weise auch sein Wissen über politische Strukturen. Zugleich benötigt er die Kenntnis dessen, dass auch Ortsnamen nicht in allen Sprachen dieselbe Form haben. Unter der Voraussetzung eines solchen Wissens kann ein Leser möglicherweise Tyskland als Deutschland identifizieren, Saksan allerdings nicht unbedingt auch schon als deutsch. Je nach Grad seines Wissens über Sprachen wird er eine skandinavische, eine slavische und eine nicht indogermanische, aber doch europäische Sprache erkennen, womit er Kenntnis weniger von Sprachen als vielmehr Wissen über Sprachen aktiviert. Dies mag ihn dazu befähigen, mit Elementen aus ihm bekannteren Sprachen zu arbeiten und Inseln des Verständnisses in einem Text einer ihm ansonsten nicht oder in geringerem Grad zur Verfügung stehenden Sprache zu bilden. Dafür ist auch ein gewisser internationaler Wortschatz geeignet - vorausgesetzt man erkennt ihn und hat auch Kenntnis von der Domäne, auf die er sich bezieht: minister“, regiring, populära politiker in Text 1, kancléřskou, ministerstva, rezignuje und post in Text 2 und ministeri in Text 3 ordnet man der Politik zu; plagiat, doktorsavhandling, disertaci sind Termini aus dem wissenschaftlichen Umfeld. Kennt ein Leser ferner die Konvention, dass Meldungen in Zeitungen den Ort der verantwortlichen Redaktion bzw. den Standort des Reporters angeben, so fungiert Berlin / Praha als Signal dafür, dass er es mit einem Zeitungsartikel zu tun hat, auch wenn der Ausschnitt aus seinem Kontext isoliert ist. Dieser Kontext wäre sicher hilfreich, um die bereits erkannten Komponenten zusammenzuführen: Wüsste der Leser um das Erscheinungsdatum Februar / März 2011, so könnte er die Texte unschwer auf die Ereignisse um den Plagiatsvorwurf gegen den damaligen deutschen Verteidigungsminister beziehen.

Nun wird man in den Tageszeitungen in realen Lesesituationen kaum mit geschwärzten Texten konfrontiert sein. Das Experiment führt einen metakognitiv gesteuerten Leseprozess vor, der in einer authentischen Lesesituation mit sprachlich kompetenten Lesern automatisch abläuft. Doch auch der kompetente Leser wird gesteuert: Auch ihm helfen Personen- und Ortsnamen, das Publikationsdatum, der Kontext der Zeitung und ggf. beigegebene Bilder bei der Lektüre. Vor allem aber hängt das Verständnis dessen, was ein Artikel präsentiert, stets von der Art und vom Grad des Vorwissens ab, das sein Rezipient hat, und wie er damit umzugehen weiß. Das didaktische Experiment einer kognitiv und metakognitiv begleiteten, verlangsamten Lektüre zeigt deutlich, dass Texte nicht Bedeutung haben, sondern dass ihnen Bedeutung zugemessen wird. Bei weniger bekannten Sprachen muss ein Leser diesen Prozess bewusst steuern; je bekannter und geläufiger einem Leser eine Sprache ist, je mehr er aber auch von Texten und ihren Kontexten sowie vom kulturellen, historischen und ge­sellschaftlichen Umfeld kennt, aus dem ein Text stammt und auf das er sich bezieht, desto automatischer kann der Prozess ablaufen. Es ist anzunehmen, dass beispielsweise - und dies gleichsam in Umkehrung des Experiments -  Absolventen einer gymnasialen Oberstufe den folgenden Text weitgehend automatisiert lesen, selbst wenn auch hier der entscheidende Name geschwärzt ist:

The aristocratic defence minister, Karl-Theodor zu Guttenberg, allegedly borrowed chunks from newspaper articles without crediting them in his thesis, which compared constitutional development in the US and EU. Often touted as a future chancellor, Zu Guttenberg, 39, only finished his PhD in 2006, when he was already an MP. In the preface to the work, which received top marks, he admits it was difficult for him to find the time to complete it because of his political commitments.

Aus diesen Erkenntnissen leiten sich Aufgaben für einen Fremdsprachenlehrer ab. Die Kompetenz, sie verantwortungsvoll wahrnehmen zu können, sollte er in seinem Studium erwerben.


2   Zum wissenschaftlichen Anspruch eines Studiums

Wenn Studierende an der Hochschule angenommen werden, sind sie normalerweise Absol­venten einer gymnasialen Oberstufe und weisen bestimmte Sprachkenntnisse auf. Für die Fremdsprachenkompetenz sehen die Vorgaben der Vereinbarungen der Kultusministerkon­ferenz der Länder der Bundesrepublik Deutschland (KMK) ein bestimmtes Niveau vor, wenn es heißt:

Angestrebt wird eine sprachliche Leistung in der Bandbreite B2-C1 der Gemeinsamen Referenzrahmen für das Lernen und Lehren von Sprachen. (EPA 2002: 46).

Dabei wird für das lesende Verstehen von Texten im Einzelnen ausgeführt:

C1: Kann lange, komplexe Texte im Detail verstehen, auch wenn diese nicht dem eigenen Spezialgebiet angehören, sofern schwierige Passagen mehrmals gelesen werden können.

B2: Kann sehr selbständig lesen, Lesestil und -tempo verschiedenen Texten und Zwecken anpassen und geeignete Nachschlagewerke selektiv benutzen. Verfügt über einen großen Lesewortschatz, hat aber möglicherweise Schwierigkeiten mit seltener gebrauchten Wendungen. (EPA 2002: 72)

Die Deskriptoren für diesen Bereich lassen für das Niveau B2 bereits überraschend hohe Anforderungen, aber auch noch Zugeständnisse erkennen. Zum einen sollen un­terschiedliche Textsorten relativ leicht verstanden werden, soll ein umfangreicher Wortschatz zur Verfügung stehen, soll zielgerichtet gelesen werden können, soll ein breites Spektrum von Themen Interesse und Verständnis finden und sollen aktuelle Probleme und Standpunkte, die in Texten vertreten werden, erkannt werden. Andererseits dürfen persönliche Interessen noch eine steuernde Rolle spielen, darf ein Wörterbuch verwendet werden und dürfen manchmal noch Schwierigkeiten auftreten. Vermutlich bewältigen Abiturienten die Lektüre des Artikels aus dem Guardian im Sinne dieser Vorgaben, die Beiträge aus der schwedischen, tschechischen und finnischen Tageszeitung jedoch eher nicht, wobei es nicht uninteressant wäre, die kognitiv und metakognitiv begleiteten Verstehensleistungen aus dem Eingangsexperiment mit den Deskriptoren der Niveaus von A1 bis B1 des Referenzrahmens abzugleichen.

Die KMK-Vereinbarungen über die Fremdsprachenkenntnisse für die Allgemeine Hoch­schulreife geben Lehrenden an der Hochschule eine Vorstellung davon, mit welchen Voraussetzungen in der ersten und zweiten Fremdsprache bei Studierenden zu rechnen ist, die sich für ein Studium entscheiden, das sie für einen Lehrberuf befähigen soll. Um die Studierenden bei ihrem jeweiligen Wissensstand „abholen“ zu können, ist es jedoch nicht nur wich­tig zu wissen, wo sie sprachlich stehen (sollten), sondern auch, welche Erwartungen sie an ihr Studium herantragen. Die folgenden Äußerungen stammen aus einer Befragung der Studierenden in der ersten Sitzung eines Seminars zur Praktikumsvorbereitung im Sommersemester 2011. Sie studieren im 2. Semester eines Master-of-Education-Studiengangs mit dem Ziel Lehramt an Gymnasien im Fach Deutsch und erwarten:
  • Themen immer mit Praxisbezug, Vorbereitung auf den Schulalltag/ Referendariat – praxisnah
  •  Vorbereitung auf den Deutschunterricht: Üben von Unterrichtsentwürfen
  • Kennenlernen von neuen Herangehensweisen und Vorgehensweisen
  • Möglichkeiten zum Konzipieren einer Unterrichtsstunde
  • Verhaltensweisen zum richtigen Umgang mit SuS (= Schüler und Schülerinnen; I.K.)
Vor allem künftige Gymnasiallehrer haben sich lange Zeit als Wissenschaftler ausgebildet gesehen und den mangelnden Praxisbezug ihres Studiums beklagt. Sie sind damit allerdings auch nicht allein, denn in den Befunden bundesweiter Absolventenbefragungen heißt es:

Mangelnder Praxisbezug ist einer der meist kritisierten Aspekte in den Urteilen über das Studium. Nur jede(r) fünfte Universitätsabsolvent(in) und weit weniger als die Hälfte der Fachhochschulabgänger finden ein gutes Urteil über den Praxisbezug des Studiums. (Briedis / Minks 2004: I; Hervorhebungen im Original) 

Nun ist bereits die Ansiedelung von Fachdidaktik im Studium für ein gymnasiales Lehramt eine neuere Entwicklung und der Forderung nach Praxisorientierung geschuldet. Wenn also Studierende von fachdidaktischen Veranstaltungen eine solche Ausrichtung verlangen, so scheinen sie zunächst damit eine berechtigte Erwartung zu formulieren. Die Enttäuschung kann jedoch nicht ausbleiben, wenn der Praxisbezug als eine unmittelbare Berufsvorbereitung verstanden wird und sich in einer handwerklichen Anleitung in Form von Rezepten zu Stundenabläufen und deren Einübung erschöpfen soll. Zwar vermitteln fachdidaktische Lehrveranstaltungen selbstverständlich auch Methoden und Verfahrensweisen einer späteren Unterrichtstätigkeit, sie werden aber dennoch solche Erwartungen nicht passgenau bedienen. Weder kann nämlich garantiert werden, wann und wodurch sich die Zufriedenheit derer einstellen würde, die einschlägige Forderungen erheben, noch treffen Vorstellungen von einer ‚Lehrerlehre’ das, was in der Realität die Unterrichtstätigkeit tatsächlich ausmacht. Das Problem liegt daher im Verständnis von Fachdidaktik und Studium, d.h. es ist zu klären und zu benennen, warum ein Studium aufgenommen werden soll, worin seine Ansprüche und seine Ziele bestehen und welchen Status dabei eine Komponente wie Fachdidaktik hat.

Auch dazu gibt es Vorgaben: Was Studierende mit der Berufsabsicht Lehramt am Ende ihres Studiums erreicht haben sollen, ist - wiederum länderübergreifend - in KMK-Beschlüssen formuliert. In diesem Fall ist aufschlussreich, was in den „Ländergemeinsamen inhaltliche[n] Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung“ (KMK 2008) steht. Dort ist die Rede von einem „vertieften Sprachwissen“ und „nativnahem Sprachkönnen“, das auf „dem erworbenen Niveau zu erhalten und ständig zu aktualisieren“ sei (KMK 2008: 26). Auch soll am Ende eines Studiums Fachwissen in den Teildisziplinen vorhanden, sollen Methoden des Faches gekannt und ein „Habitus des forschenden Lernens“ (KMK 2008: 26) entwickelt worden sein. Sind hierbei die Anforderungen noch eher auf das eigene Lernen im Studienfach gerichtet, so wird mit weiteren Komponenten auf das Berufsziel abgehoben. Dazu gehören die Fähigkeit zur „Analyse und Didaktisierung von Texten“ (KMK 2008: 26), sowie insbesondere ein wissenschaftlich grundgelegter Umgang mit Gegenständen, Sachverhalten und Fragestellungen des Faches einschließlich der Refle­xion über dessen „gesellschaftliche Bedeutung“ (KMK 2008: 26). Wie wäre das zu erreichen, ggf. aber auch zu erläutern?

Ein Studium wird dann zu Recht verlangt, wenn ein Berufsprofil anvisiert ist, bei dem „kom­plexe Zusammenhänge rechtzeitig zu erfassen und angemessene Reaktionen unter Beachtung von Folgewirkungen zu entwickeln“ (HRK 2004: 59) sind. Die Leistung eines Studiums muss daher in der „Vermittlung von abstraktem, analytischem über den Einzelfall hinausgehendem und vernetztem Denken“ (HRK 2004: 60) bestehen. So allgemein diese Verlautbarungen der HRK bleiben müssen, um auf die unterschiedlichsten fachlichen Tätigkeitsfelder angewendet werden zu können, so klar sind doch die Ansagen an ein Niveau der so profilierten Tätigkeit. Wenn demnach die Studierenden im Verlauf des Studiums Sprachkurse, aber auch Veranstaltungen der Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Landeswissenschaft, der Fachdidaktik, Pädagogik und Psychologie, sowie diverse Praktika besuchen, so erfüllen die Studienangebote damit nicht einfach die KMK-Vorgaben in einem formalen Sinn. Denn diese Komponenten sind allesamt alles andere als irrelevant für die spätere Praxis. Allerdings erschließt sich diese Bedeutung erst dann, wenn der Unterrichtsalltag als eine im eben skizzierten Sinne „niveauvolle“ Tätigkeit verstanden wird. Dazu gehört, dass Studierende einen doppelten - und miteinander verschränkten - Perspektivenwechsel vornehmen. Die Komponenten eines Studiums werden erst dann als praxisrelevant erfahren, wenn zum einen ihr Zusammenspiel gesehen und Studierende zum anderen - und genau damit initiiert und einsichtig gemacht - ihre eigene Rolle als Lernende metakognitiv begleiten.

Der Anspruch eines Studium besteht demnach darin, Studierende als Lernende zu bewuss­ten, wahrnehmenden Lernenden zu befähigen und eine durch wissenschaftliche Teildisziplinen fundierte theoriegeleitete Metakognition des eigenen Lernprozesses und des eigenen Tuns anzustoßen. Das Ziel, im späteren Beruf Lernende bei ihrem Lernprozess kompetent und verantwortungsvoll begleiten zu können, macht es erforderlich, dass über die Wahrnehmung des eigenen Lernprozesses auch ein Verständnis für die Lernprozesse anderer, ihrer Voraussetzungen und Bedingungen erfolgt. Dieser Perspektivenwechsel ermöglicht jedoch nicht nur die Lernbegleitung anderer im späteren Berufsleben, sondern schafft auch - nun in umgekehrter Sicht - Einsicht in die Notwendigkeit, sich aus der Vermittlungsperspektive mit den Teildisziplinen wissenschaftlicher Fächer zu befassen. Sie stehen dann nicht als Lerngegenstände unverbunden und vermeintlich unerheblich für die unterrichtliche Tätigkeit nebeneinander, sondern können als sinnvoll sowohl für den eigenen Lernprozess als auch - damit - für die Lehrerrolle erfahren werden. Diese Vermittlungsperspektive einzunehmen, ist genuine Aufgabe fachdidaktischer Arbeit. Sie hat die Funktion, den doppelten Perspektivenwechsel zu initiieren. Aus der Vermittlungsperspektive ergibt sich die Integration der Komponenten und erfolgt die Wahrnehmung des eigenen Lern- und Erkenntnisprozesses, um andere auf deren Lernwegen begleiten zu können.  


3   Die integrative Funktion fachdidaktischer Arbeit

Versteht man Fachdidaktik demnach nicht als training to the job (oder gar on the job), son­dern als theoriengeleitete Vermittlungsarbeit, so ergeben sich daraus weitere Konse­quenzen. Zum einen muss es das Anliegen der Fachdidaktik sein, darauf zu achten, dass die Auswahl der Gegenstände, Sachverhalte und Verfahrensweisen - einschließlich der Unter­richtsorganisation in der Schule - den wissenschaftlich grundgelegten Modellierungen der Bezugsdomänen verpflichtet ist oder ihnen zumindest nicht diametral entgegen steht. Das bedeutet zum anderen aber auch keine Hierarchisierung in dem Sinne, dass Wissenschaften eine Geberfunktion hätten und Didaktik daraus eine Umsetzung ableitet. Vielmehr ist in wechselseitiger Erhellung der Gegenstände und Sachverhalte eine Beteiligung praxisrelevanter Vermittlungsarbeit an der wissenschaftlichen Gegenstandskonstitution und -verhandlung aus der Vermittlungsperspektive zu verlangen. Am Bereich des Leseverstehens bzw. der Vermittlung von Leseverstehensfähigkeit soll die integrative Rolle fachdidaktischer Arbeit beispielhaft veranschaulicht werden.


3.1 Wissenschaftliche Modellierung des Leseverstehensprozesses

Die Beschreibung des Experiments mit den eingangs zitierten Texten mag möglicherweise beim Leser dieses Beitrags eigene Versuche initiieren. Im Studium wären die wissen­schaftlichen Grundlagen, die Modellbildung, der theoretische Zugriff zu vermitteln, um zu verstehen, was man als Leser tut und wie man begründet handeln kann, wenn man als Lehrender die Prozesse anderer begleitet. Wissenschaftliche Grundlagen für die Erkenntnis und Einsicht in Erscheinungen und Abläufe beruhen auf Modellen und haben eine spezifische Begrifflichkeit. Beides soll Präzision und Nachvollziehbarkeit über Alltagserkenntnisse und Alltagsrede hinaus garantieren. Was es bedeutet, einen Text zu verstehen, kann auf der Grundlage eines Modells beschrieben werden, das mittlerweile als konsensfähig gelten kann. Auszugehen ist von der semantischen Struktur eines Textes, die durch Propositionen, deren Prädikate und Argumente gebildet wird und durch deren Beziehung untereinander (zusammenfassend: Kintsch 1998) Kohärenz hergestellt wird. Diese Kohärenz eines Textes ist jedoch nicht unbedingt explizit gemacht, denn ein Verfasser kann - ja muss - bewusst oder unbewusst annehmen, dass seine Leser Verbindungen schaffen, d.h. die Kohärenz eines Textes ist ein Ergebnis der Kohärenzbildung durch den Leser. In einem Text kann es implizite Aufnahmen von vorab Genanntem geben, was der Leser wahrnimmt - oder eben nicht oder nur bis zu einem gewissen Grad. Jeder Leser ver­sucht zu überbrücken, was für ihn nicht explizit im Text erkennbar ist, um auf jeden Fall Kohärenz herzustellen. Dabei kann dieses Zusammenspiel von Leserverhalten und Textvorgabe alle Abstufungen haben, die zwischen extremer Redundanz, die ein Rezipient beim Lesen erfährt, und der Unmöglichkeit, dem Gelesenen irgendeinen Sinn abzugewinnen, changieren.  

Sowohl bei der Identifikation bestimmter Textsignale als auch bei der „Überbrückungs­tätigkeit“ (im einschlägigen Fachvokabular inferences) aktiviert der Leser Vorwissen. Dabei kann angenommen werden, dass sachlich-inhaltliches Wissen (Weltwissen) nicht ungeordnet, sondern in Form mentaler Ordungs- und Abstraktionsprinzipien, sogenannter frames, scripts und schemata (dazu Karg 2007; demnächst zusammenfassend und überblickend: Busse 2012) vorhanden ist, die im Laufe des Lebens in der kulturellen Vermittlung durch die Umgebung gelernt und (hoffentlich) stets erweitert werden. Ferner gehören dazu Textwissen und Sprachwissen, die ebenfalls im Zuge der Sozialisation vermittelt werden. Dass jemand etwas besser versteht, wenn er mehr weiß, ist im Grunde eine Trivialität; doch im Rahmen eines Verstehensmodells ist von Bedeutung, dass Leser als Resultat ihres Durchgangs durch einen Text ein Situationsmodell (z.B. Kintsch 1998: 107) kreieren, indem sie den Textinhalt und ihr eigenes Wissen miteinander verbinden. Was der Leser einem Text entnimmt, wird in bestehende Kenntnisse und Vorstellungen eingearbeitet, und diese sind - aus der umgekehrten Perspektive formuliert - ihrerseits auch die Voraus­setzung für ein Verstehen dessen, was der Text dem Leser bietet. Sogenannte bottom-up-Strategien und top-down-Strategien spielen stets zusammen. Das Experiment zu Beginn dieses Beitrags hat diese Prozesse beispielhaft veranschaulicht.

Wenn hier das Modell in seinen Komponenten schrittweise erläutert wird, so ist doch zu betonen, dass von einem komplexen Zusammenspiel aller Strategien auf allen Ebenen eines Textes auszugehen ist. Das heißt: Ein Leser sucht nicht erst alle Buchstaben zusammen, baut daraus Wörter und schließlich einen Text, den er auf ein außersprachliches Phänomen bezieht und ihn als Ergebnis solcher aufeinander folgenden Schritte „versteht“, vielmehr wird von Anfang an ein - wenn auch zunächst vorläufiges - Situationsmodell entworfen, das beim Durchgang durch einen Text kontinuierlich der Bestätigung oder Revision ausgesetzt wird. Auch ist es eine bekannte Erfahrung, dass derselbe Text - zu verschiedenen Zeiten gelesen - durchaus verschieden „verstanden“ werden kann. Auch darüber kann ein erneuter Blick auf die eingangs zitierten Texte und können die Versuche, ihnen Bedeutung zu geben, illustrie­rend und aufschlussreich sein: Mit mehr Wissen über inhaltliche Domänen, über  Sprachen, über Text- und Kommunikationskonventionen wird anderes und anders „verstanden“. Vor allem aber ist auch wichtig, dass es sehr unterschiedliche Leseintentionen gibt: Einem Leser mag es genügen, sich nur über die Anwesenheit eines Themas in den Medien einer bestimmten Sprachgemeinschaft zu informieren oder er mag wissen wollen, wie diese Medien - ggf. im Unterschied zu anderen - mit einem Sachverhalt umgehen. 

Das Modell ist hier in seinen wesentlichen Kernbestandteilen vorgestellt. Es stammt aus einem kognitionspsychologisch-linguistischen Forschungsfeld, in dem immer wieder einzelne Aspekte in den Blick genommen wurden, etwa die Bedeutung des Vorwissens (Kintsch 1988), die Bildung von Inferenzen, d.h. die Überbrückung dessen, was nicht explizit bzw. für einen Leser nicht explizit im Text steht, oder auch die bei verschiedenen Textsorten ablaufenden Prozesse (Perrig & Kintsch 1985). Auch wenn es sich dabei um eine neuere wissenschaftliche Richtung handelt, so hat sich das Prinzip des verstehenden Lesens, auf dem dieses Modell beruht, als mit Aussagen in der hermeneutischen Tradition kompatibel erwiesen (Karg 2007).

Das eingangs skizzierte Experiment hat damit eine wissenschaftliche Grundlegung erfahren. Wer anhand eines solchen Modells verstehen gelernt hat, wie auch ein automatisch ablaufender Leseprozess vonstatten geht, kann seine eigenen Wissensbestände bewusst aktivieren und seinen Leseprozess kognitiv begleiten. Er ist wahrnehmender Lerner geworden und erkennt, dass weder Wissen noch Leseverstehen selbstverständlich sind. Und schließlich kann er bei seinen Adressaten, die er als Lehrer später unterrichtet, die Grade des Wissens und der verschiedenen Wissensbestände feststellen, Leseverstehensprozesse anleiten, überprüfen und fördern - dies beispielsweise dadurch, dass er im Sinne der Standards für die Lehrerbildung (KMK 2008) Texte wie im eingangs vorgestellten Experiment didaktisieren kann. 

Drei Dimensionen sind dabei für lernende künftige Lehrer und künftig lehrende Lerner noch von besonderer Wichtigkeit, wobei der Anspruch eines Studiums fordert, sie in wissenschaftlichen Bezugsdomänen zu verorten und sie aus der Perspektive der Vermittlung zu verbinden.[1]


3.2 Inhalte, Sachwissen und kulturelle Kenntnisse

Es wurde bereits festgestellt, dass Namen wie Berlin oder Prag nur dann sinnfällig sein können, wenn ein Leser geographisches Wissen über europäische Hauptstädte hat. Doch auch ein Wissen darüber, dass der (seriöse) Journalismus seine Quellen angibt, ist eine Implikation des entsprechenden Textes. Personennamen erfordern ein Wissen darüber, wer die Personen sind. Darüber hinaus ist es ein Unterschied, ob man weiß, dass es einen Verteidigungsminister gibt oder ob man das nicht weiß, und wie derjenige, der diese Funktion innehat, bezeichnet wird, d.h. man braucht Kenntnis über oder zumindest eine Ahnung von dem politischen System, das der Text ebenfalls explizit nicht thematisiert, das aber im Hintergrund steht und dem Leser wenigstens in groben Zügen bekannt sein muss. In den genutzten Zeitungstexten handelt es sich um ein System, das dem westlichen Demokratieverständnis verpflichtet ist: Der Verteidigungsminister heißt nicht Kriegsminister, aber auch nicht Friedensminister.

Ferner muss ein Leser Kenntnis von einem aktuellen / zeitbezogenen Sachverhalt haben. Die Inhalte der Eingangstexte sind rasch den politischen Ereignissen in der Bundesrepublik Deutschland im Februar 2011 zuzuordnen - vor allem für Leser, die diese Vorgänge selbst miterlebt haben. Was ein Text als bekannt voraussetzt, ist jedoch nicht immer auch dem Leser bekannt, und eine Inkongruenz von Textimplikationen und Leserwissen steht dem Entwurf eines konsistenten Situationsmodells entgegen. Vor allem eine ggf. bestehende, historische Distanz zwischen Textentstehung und Lesererfahrung erfordert bekanntlich ein mitunter nicht unerhebliches Maß an kompensatorischer Arbeit. Nicht unerheblich für einen Leser ist außerdem die Möglichkeit, domänenspezifisches Wissen zu aktivieren - im vorliegenden Fall wären dies Kenntnisse über Wissenschaftsorganisation, Universitäten und Promotionsverfahren. Letzteres impliziert auch Wertvorstellungen und einen Moralcodex einer Gesellschaft, der dann auch noch einmal Personen des öffentlichen Lebens mit Repräsentationsaufgaben eine besondere Verantwortung auferlegt. Auch sind Zusammenhänge, Gepflogenheiten und Übereinkünfte der Publikationsorgane für Artikel, die der Öffentlichkeit präsentiert werden, nicht unerheblich. Daher wäre es auch irrig zu glauben, dass Printmedien, die von vielen gelesen werden, eine „leichte“ Sprache verwenden. Viel­mehr sind gerade solche Publikationsorgane in hohem Maße kulturell spezifisch geprägt. Dabei ist von einem weiten Kulturbegriff auszugehen, der Kultur als Zugriff zur Welt versteht, über den eine Gruppe von Menschen gemeinsam verfügt und dem sie sich verpflichtet fühlt (Heringer 2010: 108). Dieser Kulturbegriff liegt zumindest implizit auch einer Umorientierung der traditionellen Geisteswissenschaften in Kulturwissenschaften (und der entsprechenden Umbenennung) zugrunde. Diese sehen es als ihre Aufgabe an, Erscheinungen dieser Welt wissenschaftlich zu modellieren. Wissen erwerben, um verstehen zu können und anderen künftig beim Verstehen zu helfen, sollte dem Anspruch eines Studiums folgend nicht zufällig, willkürlich oder irrational erfolgen, sondern sich zumindest den wissenschaftlichen Diskursen der Inhalte, auf die man stößt, als Kontrollinstanz verpflichtet fühlen können. Dies heißt nicht, dass ein Fremdsprachenstudium auch ein Politik-, Geschichts- und Geographiestudium sein muss; es bedeutet aber eine grundsätzliche, von wissenschaftlicher Rationalität geprägte Einstellung auch zu den Inhalten, die sprachlich vermittelt werden und die prinzipiell in einer wissenschaftlichen Domäne zu verorten wären. Wissenschaftlichen Diskursen folgen zu können, ist daher von Studierenden zu verlangen, die ihr Wissen und ihren Wissenserwerb metakognitiv begleiten, um dies für ihre Lehrerrolle zu nutzen.[2]


3.3 Sprachwissen

Sach- und Wissenskomponenten sind nicht von Sprache zu lösen, und umgekehrt werden Inhalte immer sprachlich vermittelt. Mit Hilfe des soeben beschriebenen Wissens kann auch den Texten weniger bekannter Sprachen bis zu einem gewissen Grad Sinn zugemessen werden. Dies betrifft nicht nur die Namen der Städte Berlin und Prag, sondern auch die Internationalismen - in ihrer deutschen Version: Politik, Minister, Opposition, Regierung, Plagiat, Schock, Kanzler(in), und populär. Sie überhaupt zu erkennen, bedarf jedoch eines Wissens um die Tatsache von Formenbeständen (nicht deren Kenntnis im Einzelnen) und der unterschiedlichen Prinzipien von Sprachen, mit übernommenem Wortbestand zu verfahren. Englische Übernahmen sind im Tschechischen stärker adaptiert als etwa im Deutschen, z.B.: džus, v ofsajdu, džínsy, džíp oder čip. Wer im schwedischen Text erkennt, dass es um eine Dissertation geht, tut dies möglicherweise umso eher, wenn er etwas von Lautverschiebung bzw. nicht erfolgter Lautverschiebung und von einem unterschiedlichen Skopus von Lexemen weiß: Die deutsche Abhandlung hat eine größere Reichweite als die Dissertation

Das heißt: Von systemischem und konventionsgesteuertem Sprachwandel, von Sprach­verwendung und Sprachsystemen, von diachronen und synchronen Zugriffen auf Sprache, Etymologie, Zeichentheorie, der Lehre von den Sprechakten und von Konversationsmaximen etwas zu erfahren oder davon, dass und warum sprachliche Einheiten modelliert werden müssen - vom Laut und dem Buchstaben bis hin zum Diskurs -, sind Elemente des sprachwissenschaftlichen Studiums und dienen der Einsicht in das, was Sprache ausmacht und Sprecher mit Sprache tun. Sie bilden die Grundlage für reflektierte Arbeit mit sprachlichen Erscheinungen und sind daher nicht unerheblich für praxisrelevanten Kompetenzerwerb.


3.4  Der Fremdsprachenerwerb und die Rolle der sogenannten Muttersprache

Eine Vorstellung von Spracherwerb dergestalt, dass einer Erst- oder Muttersprache ggf. eine Zweit- und eine weitere Sprache folgt, sollte spätestens seit der Alltagserfahrung mit Menschen anderer sprachlicher und kultureller Herkunft obsolet sein. Auch eine Auffassung von Sprache als Wörter, die gleichsam als Etiketten auf Erscheinungen der Welt geklebt und beim Erwerb einer neuen Sprache nur ausgewechselt werden müssen, und für deren Verknüpfung zu Sätzen es ein paar Regeln gibt, ist zwar weit verbreitet - Cherubim (2000) spricht von einem normativen Syndrom - widerspricht aber der aufmerksamen Beobachtung und erst recht einem wissenschaftlichen Zugriff. Bereits unter der Voraussetzung einer linearen Abfolge von Erstsprache, Zweitsprache und Fremdsprachen mit Wörterlernen und Grammatik gibt es bekanntlich verschiedene Theorien, die den Spracherwerb und das Sprachenlernen als entweder natürlich oder instruktiv begleitet favorisieren und dabei das Verhältnis von sogenannter Muttersprache und Fremdsprache unterschiedlich akzentuieren (Edmondson & House 2000: 134). Seit internationale Migrationsbewegungen, und die z.T. damit verbundene, sprachliche, soziale und kulturelle Heterogenität in den Klassenzimmern auch die öffentliche Diskussion prägen, muss man sich von einfachen Modellen grund­sätzlich verabschieden. Realität ist, dass sich Menschen mit Sprache verständigen und zugleich mit Sprache den Zugriff zur Welt haben – und beides nicht voneinander zu trennen ist. Im Einzelnen bedeutet dies, dass es niemals eine absolut ‚richtige’ und absolut ‚komplette’, abgeschlossene Sprachkompetenz gibt. Spracherwerb ist ein offener, unabgeschlossener, lebenslanger Prozess – in jeder Sprache.
Interessant ist, was Schüler aus verschiedenen Bundesländern und aus internationalen Schulen sowie deutschen Schulen im Ausland zu ihrer Sprachverwendung äußern[3] (Tab. 1).

Aus der Übersicht wird der Unterschied zwischen Schülern im Inland, an der europäischen Schule und an den deutschen Auslandsschulen erkennbar. Einfluss auf die Sprachverwendung scheint sowohl das außerschulische wie auch das schulische Umfeld zu nehmen. Vor allem aber werden in den verbalen Selbsteinschätzungen der Schüler alle Varianten eines Sprachgebrauchs deutlich, bei dem mehrere Sprachen in unterschiedlicher Weise zur Verfügung stehen.

Ich schreibe und lese türkische Briefe aber lese keine türkischen Bücher. (FB 839)
Ich lese englische Briefe und Bücher, zuhause und auch bei meiner Oma spreche ich englisch. Da meine Mutter Engländerin ist und meine englische Oma in England wohnt. (FB 840)
Anstatt die Bücher in deutsch zu lesen kaufe oder leihe ich sie mir lieber auf Englisch aus. Nach einer Weile liest es sich immer leichter und man merkt es auch z.B. in der Schule (Wortschatz) (FB 857)



Schule und Jahrgangsstufe


eine Sprache


zwei
Sprachen

drei oder mehr
Sprachen

Europäische Schule 9


50,0%

20,0%

25,0%

Europäische Schule 11


37,5%

41,66%

4,16%

Deutsche Auslandsschule 1/9

65,21%


21,73%

13,04%

Deutsche Auslandsschule 1/ 12

53,84%

30,76%

15,38%


Deutsche Auslandsschule 2/ 9


85,10%

12,76%

0,00 %

Deutsche Auslandsschule 2/ 12


62,5%

25,0%

6,25%

Deutsche Internationale Schule 9


57,89%

36,84%

0,00%

Deutsche Internationale Schule 12

40,0%

20,0%

40,0%


Gym Altes Bundesland 9

55,55%

0,00%


3,70%

Gym Altes Bundesland 12

27,27%

63,63%

0,00%


Gym Neues Bundesland 9


27,77%

0.00%

0,00%

Gym Neues Bundesland 12


63,68%

0,00%

0,00%

Tab. 1: Verwendung von Sprachen neben Deutsch

Ich bin in Deutschland aufgewachsen, bin da in den Kindergarten gegangen und Schule, und Deutsch ist meine 2. Muttersprache, aber ich spreche zuhause trotzdem Lettisch. (FB 891)
Da unsere Schule sehr viel Wert auf Sprachen legt hilft es einem, wenn man Bücher in diesen Sprachen liest und somit sein Vokabular vergrößert. (FB 977)

Die Bilingualitäts- und Mehrsprachigkeitsforschung spricht von code switching (als einer absichtlich-bewussten Verwendung) und code mixing (als einer eher Defizite über­brückenden Verwendung; Muysken 2000, dazu auch Hufeisen 2011). Die Äußerungen der Schüler machen deutlich, dass Sprachlichkeit heute kaum in enge Raster passt, sondern ein Phänomen flexibel gehandhabter Sprachverwendung ist. Es existieren:
  • Grade der Mehrsprachigkeit, denn kaum beherrscht man zwei oder gar mehr Spra­chen gleich und in allen Situationen und Vewendungszusammenhängen über das ganze Leben hinweg gleich gut;
  • zeitliche Verschiebungen, wenn in verschiedenen Phasen des Lebens verschiedene Sprachen präsent oder dominant sind;
  • eine domänenspezifische Kompetenz, die auch vom Erwerb abhängt; denn was in einer bestimmten Lebenssituation gelernt wurde, das wurde auch immer mit einer be­stimmten Sprache gelernt;
  • eine adressatenbezogene Sprachverwendung, denn Freunde, Eltern und Bezugs- und Kontaktpersonen des näheren oder weiteren Umfeldes haben auf die eigene Sprachverwendung Einfluss - so weit, dass man mit bestimmten Personen in einer anderen „Sprache“ spricht als mit anderen;
  • eine situationenspezifische Sprachverwendung mit standardisierten Wendungen, die gelernt werden, um genau eine, vielleicht immer wiederkehrende Situation zu bewäl­tigen, andere aber nicht;
  • den Unterschied zwischen der mündlichen und der schriftlichen Kompetenz;
  • den Unterschied zwischen rezeptiver und produktiver Fähigkeit;
  • und eine vielfältige Kombination all dessen, was in ein Klassenzimmer eine extreme Form von Heterogenität bringt.
Sprecher, die sprachlich unterschiedliche Situationen bewältigen müssen, können nicht nur den Code wechseln, sie können Codes auch aktiv und bewusst mischen und ihr Sprachverhalten den Erfordernissen der Situation anpassen. In einer künftig weltweit vernetzten Gesellschaft wird dies von entscheidender Bedeutung sein. Lehrer müssen in der Lage sein, die Voraussetzungen der Lerner zu eruieren und Zielvorstellungen ihres Unterrichts zu bestimmen - und diese Ziele schließlich in ihrer Unterrichtsorganisation anzuvisieren.


4    Unterrichtsorganisation

Vermeintlich unbefragt geltende Organisationstypen von Unterricht bezeichnete Hubert Ivo (1977: 183)  bereits als unterrichtliches Brauchtum, das er in einem Lehramtsstudium von einer wissenschaftlich fundierten Fachdidaktik abgelöst sehen möchte. Ein weit verbreitetes Muster des Brauchtums besteht in einem der Pädagogik des späten 19. Jahrhunderts (Herbart und Nachfolger) verpflichteten und nach Phasen gegliederten Unterrichtsablaufs mit Einstieg, Erarbeitung durch Hinführungsfragen, Vertiefung bzw. Transfer, Ergebnissicherung und Zusammenfassung und / oder Ausblick - mit gewissen Variationen (Meyer 2006). Das Muster hat seine Logik und ist vor allem sehr zielführend. Es geht jedoch von zwei Annahmen aus: zum einen, dass eine Lehrperson bei allen ihren Adressaten an dieselben Voraussetzungen anknüpfen und zum anderen, dass sie sie zu einem wiederum für alle identischen Ergebnis führen kann. Weder das eine noch das andere ist für alle Situationen der sprachlichen Vermittlung im Unterricht zutreffend. Die Komplexität des Gegenstandes Sprache (ein kulturelles Phänomen mit Referenzcharakter seiner Inhalte), die Realität der Produktion und Rezeption (Kommunikat Text im Verstehensprozess) sowie die Situation in einer Lernergruppe, die von der Heterogenität ihrer Sprachkompetenz (und zwar in den verschiedenen Codes) geprägt ist, verlangt von der Lehrperson die Kenntnis auch anderer Planungs- und Organisationsmuster. Diese werden meist als neue Verfahren, als Alternativen und unter Schlagworten wie Freiarbeit, Stationenlernen, Lernzirkel, Projektmethode, Projektarbeit oder Wochenplan gehandelt (z.B. Bönsch 2000). Sie sind alles andere als neu und in ihren jeweiligen Ursprüngen bestimmten pädagogischen Konzepten der Praxis - vor allem aber wissenschaftlichen Lerntheorien - verpflichtet. Heutzutage scheint die Kognitionspsychologie die stringenten Reiz-Reaktionsschemata des Behaviorismus abgelöst zu haben. Wenn Studierende auch davon in in ihrem Studium etwas „lernen“, so ist  jedenfalls festzuhalten, dass dies weder abgehobene Theorien sind noch dass sie damit den Unterricht „üben“ sollen. Auch soll die Kenntnis einer Vielfalt von Möglichkeiten der Unter­richtsorganisation, mitsamt der ihnen zugrundeliegenden Theorien und der bildungsgeschichtlichen Situation, aus der sie stammen, weder Verwirrung stiften noch der Abwechslung als Wert an sich dienen. Vielmehr soll das Lernen mit Blick auf das Lehren die Fähigkeit befördern, verantwortungsvoll den Gegenständen (Sprache, Texte) und den Adressaten (Lernern) gegenüber aufzutreten. Der Heterogenität der Lerner, der Realität der Sprachverwendung und Sprachnutzung kann nur eine Lehrperson gerecht werden, die ein methodisch-organisatorisches Repertoire zur Verfügung hat und dieses souverän und verantwortungsvoll im Sinne der oben profilierten niveauvollen Tätigkeit  (HRK 2004: 56f) einsetzt. Das Zusammenspiel aller Komponenten eines (Fremd)(Sprachen)Studiums - und dies gilt für alle Lehramtsstudiengänge - vermittelt Kenntnisse, ermöglicht die metakognitive Begleitung des Erwerbs im Sinne einer Perspektive auf die Vermittlungsarbeit und befähigt zu begründbaren Entscheidungen in der aktuellen, praktischen Situation im Klassenzimmer: zum Lesen und Verstehen von Texten, zur Diagnose und zur Förderung, die mehr ist als nur ein Ausgleich von Defiziten (die unter bestimmten Interessenslagen ggf. gar nicht bestehen) – und dies mit metakognitiv und theoretisch grundgelegtem Blick auf den eigenen Er­kenntnisprozess und den eigenen Wissenserwerb. Damit
  • kann eine Lehrperson Zielvorstellungen definieren (native, near native oder ganz andere);
  • Lehrwerke souverän nutzen und kultusministerielle Vorgaben nicht als Zwang begreifen;
  •  weiß sie von fließenden Grenzen zwischen Muttersprache, Zweitsprache und Fremd­sprache und kann unterschiedliche Herkunftssprachen einbeziehen.

Und die Lehrkraft kennt Strategien, die in bestimmten Situationen nützlich sind und kann sie an ihre Lerner weitergeben: Internationalismen, Vortasten über Inseln und Vorentlasten durch Wissensvermittlung. Sie weiß um die Motivationsförderung auch durch Teilerfolge. Auch dies sollte das didaktische Experiment des Einstiegs zeigen.




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[1] Das Verstehensmodell bezieht sich aufgrund seines prinzipiellen Charakters auch auf solche Texte, die als „literarische“ rezipiert werden (Zwaan 1996). Damit ist im Umkehrschluss die Voraussetzung impliziert, dass es nicht Literatur als ein abgegrenztes Korpus von Texten „gibt“, sondern dass es sich um ein Rezeptionsphänomen handelt; da der Beitrag als Beispiele sogenannte Sachtexte heranzieht und es um Prinzipielles eines Studiums geht, werden hier als literarisch rezipierte Texte nicht ge­sondert berücksichtigt.
[2]  Im Übrigen gilt genau dies für literaturwissenschaftliche Zugriffe und deren Paradigmen, auf die jedoch hier nicht näher eingegangen werden kann; s. oben.
[3]  Dazu ausführlicher Karg 2003; die Befunde stammen aus einem Forschungsprojekt, das bereits einige Jahre zurückliegt. Die Darstellung bei Karg (2003; 117-122) folgt etwas anderen Prinzipien, jedoch auf der Grundlage derselben Datensätze. Damit wird weder für die Zeit der Erhebung noch erst recht nicht für die Gegenwart Repräsentativität beansprucht. Als „Bodenproben“ veranschaulichen die Befunde jedoch potentielle Situationen, die Lehrpersonen in Klassenzimmern vorfinden können.