Vom
Lerner zum Lehrer –
Perspektivenwechsel
als fachdidaktische Aufgabe
Ina Karg (Göttingen)
Abstract
(English)
Foreign language
students have certain suppositions and expectations. Taking these as a basis,
this paper aims at explaining the change of perspective which consists in observing
student teachers’ own learning processes so as to enable them to accompany
their future students’ learning processes. The paper emphasises the inevitable
necessity of academic studies as a condition sine qua non for performing
the job of a teacher. This demand is exemplified by the areas of reading and
text comprehension, with a methodological experiment serving as the starting
point and as a guideline of the paper which focuses on teacher training
programmes.
Key words: teacher training, learning processes
Abstract (Deutsch)
Ausgehend von den
Voraussetzungen und Erwartungen der Studierenden in einem Fremdsprachenstudium
wird im Beitrag der Perspektivenwechsel aufgezeigt, der darin besteht, den
eigenen Lernprozess wahrzunehmen, um später als Lehrperson die Lerner bei ihren
Lernwegen begleiten zu können. Betont wird dabei der wissenschaftliche Anspruch
eines Studiums als unverzichtbare Voraussetzung für die spätere Lehrtätigkeit.
Als Veranschaulichung dient der Bereich des Lese- und Textverstehens: Ein
didaktisches Experiment für den Leser dient als Auftakt und als Leitgedanke für
den gesamten Beitrag. Im Blick sind Studierende des Lehramts an Gymnasien bzw.
der Sekundarstufe II.
Stichwörter:
Lehrerausbildung, Lernprozesse
1 Die Lektüre fremdsprachlicher Texte - ein
didaktisches Experiment
Im Rahmen des in dem vorliegenden Beitrag von uns
analysierten Weges vom Lerner zum Lehrer wollen wir von einem Experiment
ausgehen, in dem die folgenden drei Textausschnitte eine zentrale Rolle
spielen. Für diese Textausschnitte werden zunächst absichtlich weder die
Quellen noch die Erscheinungsdaten genannt. Auch die Schwärzungen sind mit
Absicht vorgenommen worden:
Text 1
Trycket blev till slut för stort. I går avgick Tysklands försvarsminister XXXXXXXXXXXXXX efter avslöjanden om grovt fusk och plagiat i sin doktorsavhandling – en chock
för XXXXXXXXXXXXXX regering där Tysklands mest populära politiker är en stöttepelare.
Text 2
Věštili mu
kancléřskou budoucnost. Kvůli opsané disertaci ale XXXXXXXXXXXXXXrXX odchází z vlády -
BERLÍN/PRAHA Po schodech v berlínské budově ministerstva obrany sestoupil sám.
O několik minut později stejnou cestou odešel. Opět sám. V mezidobí XXXXXXXXXXXXXX oznámil, že rezignuje na vládní post.
Text 3
Saksan puolustusministeri XXXXXXXXXXXXXX erosi tehtävästään. XXXXXXXXXX ilmoitti asiasta
aamupäivällä. Oppositio on vaatinut XXXXXXXXXX eroa sen jälkeen, kun kävi ilmi, että ministeri oli
lainaillut lukuisia osia väitöskirjastaan muilta kirjoittajilta mainitsematta
lähteitä.
Wird ein Leser mit diesen drei Texten konfrontiert, so
fallen ihm vermutlich als Erstes in Text 2 die Ortsnamen Berlin und Praha
auf. Identifiziert er sie als Hauptstädte zweier mitteleuropäischer Staaten,
so nutzt er damit sein geographisches und in gewisser Weise auch sein Wissen
über politische Strukturen. Zugleich benötigt er die Kenntnis dessen, dass auch
Ortsnamen nicht in allen Sprachen dieselbe Form haben. Unter der Voraussetzung
eines solchen Wissens kann ein Leser möglicherweise Tyskland als Deutschland
identifizieren, Saksan allerdings nicht unbedingt auch schon als deutsch.
Je nach Grad seines Wissens über Sprachen wird er eine skandinavische, eine
slavische und eine nicht indogermanische, aber doch europäische Sprache
erkennen, womit er Kenntnis weniger von
Sprachen als vielmehr Wissen über
Sprachen aktiviert. Dies mag ihn dazu befähigen, mit Elementen aus ihm
bekannteren Sprachen zu arbeiten und Inseln des Verständnisses in einem Text
einer ihm ansonsten nicht oder in geringerem Grad zur Verfügung stehenden
Sprache zu bilden. Dafür ist auch ein gewisser internationaler Wortschatz geeignet
- vorausgesetzt man erkennt ihn und hat auch Kenntnis von der Domäne, auf die
er sich bezieht: minister“, regiring,
populära politiker in Text 1, kancléřskou,
ministerstva, rezignuje und post
in Text 2 und ministeri in Text 3
ordnet man der Politik zu; plagiat, doktorsavhandling, disertaci
sind Termini aus dem wissenschaftlichen Umfeld. Kennt ein Leser ferner die
Konvention, dass Meldungen in Zeitungen den Ort der verantwortlichen Redaktion
bzw. den Standort des Reporters angeben, so fungiert Berlin / Praha
als Signal dafür, dass er es mit einem Zeitungsartikel zu tun hat, auch wenn
der Ausschnitt aus seinem Kontext isoliert ist. Dieser Kontext wäre sicher
hilfreich, um die bereits erkannten Komponenten zusammenzuführen: Wüsste der
Leser um das Erscheinungsdatum Februar / März 2011, so könnte er die Texte
unschwer auf die Ereignisse um den Plagiatsvorwurf gegen den damaligen
deutschen Verteidigungsminister beziehen.
Nun wird man in den Tageszeitungen in realen
Lesesituationen kaum mit geschwärzten Texten konfrontiert sein. Das Experiment
führt einen metakognitiv gesteuerten Leseprozess vor, der in einer
authentischen Lesesituation mit sprachlich kompetenten Lesern automatisch
abläuft. Doch auch der kompetente Leser wird gesteuert: Auch ihm helfen
Personen- und Ortsnamen, das Publikationsdatum, der Kontext der Zeitung und
ggf. beigegebene Bilder bei der Lektüre. Vor allem aber hängt das Verständnis
dessen, was ein Artikel präsentiert, stets von der Art und vom Grad des
Vorwissens ab, das sein Rezipient hat, und wie er damit umzugehen weiß. Das
didaktische Experiment einer kognitiv und metakognitiv begleiteten,
verlangsamten Lektüre zeigt deutlich, dass Texte nicht Bedeutung haben,
sondern dass ihnen Bedeutung zugemessen wird. Bei weniger bekannten
Sprachen muss ein Leser diesen Prozess bewusst steuern; je bekannter und
geläufiger einem Leser eine Sprache ist, je mehr er aber auch von Texten und
ihren Kontexten sowie vom kulturellen, historischen und gesellschaftlichen
Umfeld kennt, aus dem ein Text stammt und auf das er sich bezieht, desto
automatischer kann der Prozess ablaufen. Es ist anzunehmen, dass beispielsweise
- und dies gleichsam in Umkehrung des Experiments - Absolventen einer gymnasialen Oberstufe den
folgenden Text weitgehend automatisiert lesen, selbst wenn auch hier der
entscheidende Name geschwärzt ist:
The aristocratic defence minister, Karl-Theodor zu Guttenberg,
allegedly borrowed chunks from newspaper articles without crediting them in his
thesis, which compared constitutional development in the US and EU. Often
touted as a future chancellor, Zu Guttenberg, 39, only finished his PhD in 2006, when he was
already an MP. In the preface to the work, which received top marks, he admits
it was difficult for him to find the time to complete it because of his
political commitments.
Aus diesen Erkenntnissen leiten sich Aufgaben für einen
Fremdsprachenlehrer ab. Die Kompetenz, sie verantwortungsvoll wahrnehmen zu
können, sollte er in seinem Studium erwerben.
2 Zum
wissenschaftlichen Anspruch eines Studiums
Wenn
Studierende an der Hochschule angenommen werden, sind sie normalerweise Absolventen
einer gymnasialen Oberstufe und weisen bestimmte Sprachkenntnisse auf. Für die
Fremdsprachenkompetenz sehen die Vorgaben der Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz
der Länder der Bundesrepublik Deutschland (KMK) ein bestimmtes Niveau vor, wenn
es heißt:
Angestrebt
wird eine sprachliche Leistung in der Bandbreite B2-C1 der Gemeinsamen
Referenzrahmen für das Lernen und Lehren von Sprachen. (EPA 2002: 46).
Dabei
wird für das lesende Verstehen von Texten im Einzelnen ausgeführt:
C1: Kann lange, komplexe Texte im Detail verstehen,
auch wenn diese nicht dem eigenen Spezialgebiet angehören, sofern schwierige
Passagen mehrmals gelesen werden können.
B2: Kann sehr selbständig lesen, Lesestil und
-tempo verschiedenen Texten und Zwecken anpassen und geeignete Nachschlagewerke
selektiv benutzen. Verfügt über einen großen Lesewortschatz, hat aber
möglicherweise Schwierigkeiten mit seltener gebrauchten Wendungen. (EPA 2002:
72)
Die Deskriptoren für diesen Bereich lassen für das Niveau
B2 bereits überraschend hohe Anforderungen, aber auch noch Zugeständnisse
erkennen. Zum einen sollen unterschiedliche Textsorten relativ leicht
verstanden werden, soll ein umfangreicher Wortschatz zur Verfügung stehen, soll
zielgerichtet gelesen werden können, soll ein breites Spektrum von Themen
Interesse und Verständnis finden und sollen aktuelle Probleme und Standpunkte,
die in Texten vertreten werden, erkannt werden. Andererseits dürfen persönliche
Interessen noch eine steuernde Rolle spielen, darf ein Wörterbuch verwendet
werden und dürfen manchmal noch Schwierigkeiten auftreten. Vermutlich bewältigen Abiturienten die Lektüre des
Artikels aus dem Guardian im Sinne
dieser Vorgaben, die Beiträge aus der schwedischen, tschechischen und
finnischen Tageszeitung jedoch eher nicht, wobei es nicht uninteressant wäre,
die kognitiv und metakognitiv begleiteten Verstehensleistungen aus dem
Eingangsexperiment mit den Deskriptoren der Niveaus von A1 bis B1 des
Referenzrahmens abzugleichen.
Die
KMK-Vereinbarungen über die Fremdsprachenkenntnisse für die Allgemeine Hochschulreife
geben Lehrenden an der Hochschule eine Vorstellung davon, mit welchen
Voraussetzungen in der ersten und zweiten Fremdsprache bei Studierenden zu
rechnen ist, die sich für ein Studium entscheiden, das sie für einen Lehrberuf
befähigen soll. Um die Studierenden bei ihrem jeweiligen Wissensstand „abholen“
zu können, ist es jedoch nicht nur wichtig zu wissen, wo sie sprachlich stehen
(sollten), sondern auch, welche Erwartungen sie an ihr Studium herantragen. Die
folgenden Äußerungen stammen aus einer Befragung der Studierenden in der ersten
Sitzung eines Seminars zur Praktikumsvorbereitung im Sommersemester 2011. Sie
studieren im 2. Semester eines Master-of-Education-Studiengangs mit dem
Ziel Lehramt an Gymnasien im Fach Deutsch und erwarten:
- Themen immer mit Praxisbezug, Vorbereitung auf den Schulalltag/ Referendariat – praxisnah
- Vorbereitung auf den Deutschunterricht: Üben von Unterrichtsentwürfen
- Kennenlernen von neuen Herangehensweisen und Vorgehensweisen
- Möglichkeiten zum Konzipieren einer Unterrichtsstunde
- Verhaltensweisen zum richtigen Umgang mit SuS (= Schüler und Schülerinnen; I.K.)
Vor
allem künftige Gymnasiallehrer haben sich lange Zeit als Wissenschaftler
ausgebildet gesehen und den mangelnden Praxisbezug ihres Studiums beklagt. Sie
sind damit allerdings auch nicht allein, denn in den Befunden bundesweiter
Absolventenbefragungen heißt es:
Mangelnder
Praxisbezug ist einer der meist kritisierten Aspekte in den Urteilen über
das Studium. Nur jede(r)
fünfte Universitätsabsolvent(in) und weit weniger als die Hälfte der Fachhochschulabgänger
finden ein gutes Urteil über den Praxisbezug
des Studiums. (Briedis / Minks 2004:
I; Hervorhebungen im Original)
Nun
ist bereits die Ansiedelung von Fachdidaktik im Studium für ein gymnasiales
Lehramt eine neuere Entwicklung und der Forderung nach Praxisorientierung
geschuldet. Wenn also Studierende von fachdidaktischen Veranstaltungen eine
solche Ausrichtung verlangen, so scheinen sie zunächst damit eine berechtigte
Erwartung zu formulieren. Die Enttäuschung kann jedoch nicht ausbleiben, wenn
der Praxisbezug als eine unmittelbare Berufsvorbereitung verstanden wird und
sich in einer handwerklichen Anleitung in Form von Rezepten zu Stundenabläufen
und deren Einübung erschöpfen soll. Zwar vermitteln fachdidaktische
Lehrveranstaltungen selbstverständlich auch Methoden und Verfahrensweisen einer
späteren Unterrichtstätigkeit, sie werden aber dennoch solche Erwartungen nicht
passgenau bedienen. Weder kann nämlich garantiert werden, wann und wodurch sich
die Zufriedenheit derer einstellen würde, die einschlägige Forderungen erheben,
noch treffen Vorstellungen von einer ‚Lehrerlehre’ das, was in der Realität die
Unterrichtstätigkeit tatsächlich ausmacht. Das Problem liegt daher im
Verständnis von Fachdidaktik und Studium, d.h. es ist zu klären und zu
benennen, warum ein Studium aufgenommen werden soll, worin seine Ansprüche und
seine Ziele bestehen und welchen Status dabei eine Komponente wie Fachdidaktik
hat.
Auch
dazu gibt es Vorgaben: Was Studierende mit der Berufsabsicht Lehramt am Ende ihres
Studiums erreicht haben sollen, ist - wiederum länderübergreifend - in
KMK-Beschlüssen formuliert. In diesem Fall ist aufschlussreich, was in den
„Ländergemeinsamen inhaltliche[n]
Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung“
(KMK 2008) steht. Dort ist die Rede von einem „vertieften Sprachwissen“ und
„nativnahem Sprachkönnen“, das auf „dem erworbenen Niveau zu erhalten und
ständig zu aktualisieren“ sei (KMK 2008: 26). Auch soll am Ende eines Studiums
Fachwissen in den Teildisziplinen vorhanden, sollen Methoden des Faches gekannt
und ein „Habitus des forschenden Lernens“ (KMK 2008: 26) entwickelt worden
sein. Sind hierbei die Anforderungen noch eher auf das eigene Lernen im
Studienfach gerichtet, so wird mit weiteren Komponenten auf das Berufsziel
abgehoben. Dazu gehören die Fähigkeit zur „Analyse und Didaktisierung von
Texten“ (KMK 2008: 26), sowie insbesondere ein wissenschaftlich grundgelegter
Umgang mit Gegenständen, Sachverhalten und Fragestellungen des Faches einschließlich
der Reflexion über dessen „gesellschaftliche Bedeutung“ (KMK 2008: 26). Wie
wäre das zu erreichen, ggf. aber auch zu erläutern?
Ein Studium wird dann zu Recht verlangt, wenn ein Berufsprofil
anvisiert ist, bei dem „komplexe Zusammenhänge rechtzeitig zu erfassen und
angemessene Reaktionen unter Beachtung von Folgewirkungen zu entwickeln“ (HRK
2004: 59) sind. Die Leistung eines Studiums
muss daher in der „Vermittlung von abstraktem, analytischem über den Einzelfall
hinausgehendem und vernetztem Denken“ (HRK 2004: 60) bestehen. So allgemein
diese Verlautbarungen der HRK bleiben müssen, um auf die unterschiedlichsten
fachlichen Tätigkeitsfelder angewendet werden zu können, so klar sind doch die
Ansagen an ein Niveau der so
profilierten Tätigkeit. Wenn demnach die Studierenden im Verlauf des Studiums
Sprachkurse, aber auch Veranstaltungen der Sprachwissenschaft,
Literaturwissenschaft und Landeswissenschaft, der Fachdidaktik, Pädagogik und
Psychologie, sowie diverse Praktika besuchen, so erfüllen die Studienangebote
damit nicht einfach die KMK-Vorgaben in einem formalen Sinn. Denn diese
Komponenten sind allesamt alles andere als irrelevant für die spätere Praxis.
Allerdings erschließt sich diese Bedeutung erst dann, wenn der
Unterrichtsalltag als eine im eben skizzierten Sinne „niveauvolle“ Tätigkeit
verstanden wird. Dazu gehört, dass Studierende einen doppelten - und
miteinander verschränkten - Perspektivenwechsel vornehmen. Die Komponenten
eines Studiums werden erst dann als praxisrelevant erfahren, wenn zum einen ihr
Zusammenspiel gesehen und Studierende zum anderen - und genau damit initiiert
und einsichtig gemacht - ihre eigene Rolle als Lernende metakognitiv begleiten.
Der
Anspruch eines Studium besteht demnach darin, Studierende als Lernende zu bewussten,
wahrnehmenden Lernenden zu befähigen und eine durch wissenschaftliche
Teildisziplinen fundierte theoriegeleitete Metakognition des eigenen
Lernprozesses und des eigenen Tuns anzustoßen. Das Ziel, im späteren Beruf
Lernende bei ihrem Lernprozess kompetent und verantwortungsvoll begleiten zu
können, macht es erforderlich, dass über die Wahrnehmung des eigenen
Lernprozesses auch ein Verständnis für die Lernprozesse anderer, ihrer
Voraussetzungen und Bedingungen erfolgt. Dieser Perspektivenwechsel ermöglicht
jedoch nicht nur die Lernbegleitung anderer im späteren Berufsleben, sondern
schafft auch - nun in umgekehrter Sicht - Einsicht in die Notwendigkeit, sich
aus der Vermittlungsperspektive mit den Teildisziplinen wissenschaftlicher
Fächer zu befassen. Sie stehen dann nicht als Lerngegenstände unverbunden und
vermeintlich unerheblich für die unterrichtliche Tätigkeit nebeneinander,
sondern können als sinnvoll sowohl für den eigenen Lernprozess als auch - damit
- für die Lehrerrolle erfahren werden. Diese Vermittlungsperspektive
einzunehmen, ist genuine Aufgabe fachdidaktischer Arbeit. Sie hat die Funktion,
den doppelten Perspektivenwechsel zu initiieren. Aus der
Vermittlungsperspektive ergibt sich die Integration der Komponenten und erfolgt
die Wahrnehmung des eigenen Lern- und Erkenntnisprozesses, um andere auf deren
Lernwegen begleiten zu können.
3 Die integrative
Funktion fachdidaktischer Arbeit
Versteht man
Fachdidaktik demnach nicht als training
to the job (oder gar on the job),
sondern als theoriengeleitete Vermittlungsarbeit, so ergeben sich daraus
weitere Konsequenzen. Zum einen muss es das Anliegen der Fachdidaktik sein,
darauf zu achten, dass die Auswahl der Gegenstände, Sachverhalte und
Verfahrensweisen - einschließlich der Unterrichtsorganisation in der Schule -
den wissenschaftlich grundgelegten Modellierungen der Bezugsdomänen
verpflichtet ist oder ihnen zumindest nicht diametral entgegen steht. Das
bedeutet zum anderen aber auch keine Hierarchisierung in dem Sinne, dass
Wissenschaften eine Geberfunktion hätten und Didaktik daraus eine Umsetzung
ableitet. Vielmehr ist in wechselseitiger Erhellung der Gegenstände und
Sachverhalte eine Beteiligung praxisrelevanter Vermittlungsarbeit an der
wissenschaftlichen Gegenstandskonstitution und -verhandlung aus der
Vermittlungsperspektive zu verlangen. Am Bereich des Leseverstehens bzw. der
Vermittlung von Leseverstehensfähigkeit soll die integrative Rolle
fachdidaktischer Arbeit beispielhaft veranschaulicht werden.
3.1
Wissenschaftliche Modellierung des Leseverstehensprozesses
Die Beschreibung des Experiments mit den eingangs
zitierten Texten mag möglicherweise beim Leser dieses Beitrags eigene Versuche
initiieren. Im Studium wären die wissenschaftlichen Grundlagen, die
Modellbildung, der theoretische Zugriff zu vermitteln, um zu verstehen, was man
als Leser tut und wie man begründet handeln kann, wenn man als Lehrender die
Prozesse anderer begleitet. Wissenschaftliche Grundlagen für die Erkenntnis und
Einsicht in Erscheinungen und Abläufe beruhen auf Modellen und haben eine
spezifische Begrifflichkeit. Beides soll Präzision und Nachvollziehbarkeit über
Alltagserkenntnisse und Alltagsrede hinaus garantieren. Was es bedeutet, einen
Text zu verstehen, kann auf der Grundlage eines Modells beschrieben werden, das
mittlerweile als konsensfähig gelten kann. Auszugehen ist von der semantischen
Struktur eines Textes, die durch Propositionen, deren Prädikate und Argumente
gebildet wird und durch deren Beziehung untereinander (zusammenfassend: Kintsch
1998) Kohärenz hergestellt wird. Diese Kohärenz eines Textes ist jedoch nicht
unbedingt explizit gemacht, denn ein Verfasser kann - ja muss - bewusst oder
unbewusst annehmen, dass seine Leser Verbindungen schaffen, d.h. die Kohärenz
eines Textes ist ein Ergebnis der Kohärenzbildung durch den Leser. In einem
Text kann es implizite Aufnahmen von vorab Genanntem geben, was der Leser
wahrnimmt - oder eben nicht oder nur bis zu einem gewissen Grad. Jeder Leser
versucht zu überbrücken, was für ihn nicht explizit im Text erkennbar ist, um
auf jeden Fall Kohärenz herzustellen. Dabei kann dieses Zusammenspiel von
Leserverhalten und Textvorgabe alle Abstufungen haben, die zwischen extremer
Redundanz, die ein Rezipient beim Lesen erfährt, und der Unmöglichkeit, dem
Gelesenen irgendeinen Sinn abzugewinnen, changieren.
Sowohl bei der Identifikation bestimmter Textsignale als
auch bei der „Überbrückungstätigkeit“ (im einschlägigen Fachvokabular inferences) aktiviert der Leser
Vorwissen. Dabei kann angenommen werden, dass sachlich-inhaltliches Wissen
(Weltwissen) nicht ungeordnet, sondern in Form mentaler Ordungs- und
Abstraktionsprinzipien, sogenannter frames,
scripts und schemata (dazu Karg
2007; demnächst zusammenfassend und überblickend: Busse 2012) vorhanden ist,
die im Laufe des Lebens in der kulturellen Vermittlung durch die Umgebung
gelernt und (hoffentlich) stets erweitert werden. Ferner gehören dazu
Textwissen und Sprachwissen, die ebenfalls im Zuge der Sozialisation vermittelt
werden. Dass jemand etwas besser versteht, wenn er mehr weiß, ist im Grunde
eine Trivialität; doch im Rahmen eines Verstehensmodells ist von Bedeutung,
dass Leser als Resultat ihres Durchgangs durch einen Text ein Situationsmodell
(z.B. Kintsch 1998: 107) kreieren, indem sie den Textinhalt und ihr eigenes
Wissen miteinander verbinden. Was der Leser einem Text entnimmt, wird in
bestehende Kenntnisse und Vorstellungen eingearbeitet, und diese sind - aus der
umgekehrten Perspektive formuliert - ihrerseits auch die Voraussetzung für ein
Verstehen dessen, was der Text dem Leser bietet. Sogenannte bottom-up-Strategien und top-down-Strategien spielen stets
zusammen. Das Experiment zu Beginn dieses Beitrags hat diese Prozesse
beispielhaft veranschaulicht.
Wenn hier das Modell in seinen Komponenten schrittweise
erläutert wird, so ist doch zu betonen, dass von einem komplexen Zusammenspiel
aller Strategien auf allen Ebenen eines Textes auszugehen ist. Das heißt: Ein
Leser sucht nicht erst alle Buchstaben zusammen, baut daraus Wörter und
schließlich einen Text, den er auf ein außersprachliches Phänomen bezieht und
ihn als Ergebnis solcher aufeinander folgenden Schritte „versteht“, vielmehr
wird von Anfang an ein - wenn auch zunächst vorläufiges - Situationsmodell
entworfen, das beim Durchgang durch einen Text kontinuierlich der Bestätigung
oder Revision ausgesetzt wird. Auch ist es eine bekannte Erfahrung, dass
derselbe Text - zu verschiedenen Zeiten gelesen - durchaus verschieden
„verstanden“ werden kann. Auch darüber kann ein erneuter Blick auf die eingangs
zitierten Texte und können die Versuche, ihnen Bedeutung zu geben, illustrierend
und aufschlussreich sein: Mit mehr Wissen über inhaltliche Domänen, über Sprachen, über Text- und
Kommunikationskonventionen wird anderes und anders „verstanden“. Vor allem aber
ist auch wichtig, dass es sehr unterschiedliche Leseintentionen gibt: Einem
Leser mag es genügen, sich nur über die Anwesenheit eines Themas in den Medien
einer bestimmten Sprachgemeinschaft zu informieren oder er mag wissen wollen, wie diese Medien - ggf. im Unterschied
zu anderen - mit einem Sachverhalt umgehen.
Das Modell ist hier in seinen wesentlichen
Kernbestandteilen vorgestellt. Es stammt aus einem
kognitionspsychologisch-linguistischen Forschungsfeld, in dem immer wieder
einzelne Aspekte in den Blick genommen wurden, etwa die Bedeutung des
Vorwissens (Kintsch 1988), die Bildung von Inferenzen, d.h. die Überbrückung
dessen, was nicht explizit bzw. für einen Leser nicht explizit im Text steht,
oder auch die bei verschiedenen Textsorten ablaufenden Prozesse (Perrig &
Kintsch 1985). Auch wenn es sich dabei um eine neuere wissenschaftliche
Richtung handelt, so hat sich das Prinzip des verstehenden Lesens, auf dem
dieses Modell beruht, als mit Aussagen in der hermeneutischen Tradition kompatibel
erwiesen (Karg 2007).
Das eingangs skizzierte Experiment hat damit eine
wissenschaftliche Grundlegung erfahren. Wer anhand eines solchen Modells
verstehen gelernt hat, wie auch ein automatisch ablaufender Leseprozess
vonstatten geht, kann seine eigenen Wissensbestände bewusst aktivieren und seinen Leseprozess kognitiv begleiten. Er
ist wahrnehmender Lerner geworden und erkennt, dass weder Wissen noch
Leseverstehen selbstverständlich sind. Und schließlich kann er bei seinen
Adressaten, die er als Lehrer später unterrichtet, die Grade des Wissens und
der verschiedenen Wissensbestände feststellen, Leseverstehensprozesse anleiten,
überprüfen und fördern - dies beispielsweise dadurch, dass er im Sinne der
Standards für die Lehrerbildung (KMK 2008) Texte wie im eingangs vorgestellten
Experiment didaktisieren kann.
Drei Dimensionen sind dabei für lernende künftige Lehrer
und künftig lehrende Lerner noch von besonderer Wichtigkeit, wobei der Anspruch
eines Studiums fordert, sie in wissenschaftlichen Bezugsdomänen zu verorten und
sie aus der Perspektive der Vermittlung zu verbinden.[1]
3.2 Inhalte,
Sachwissen und kulturelle Kenntnisse
Es wurde bereits festgestellt, dass Namen wie Berlin
oder Prag nur dann sinnfällig sein können, wenn ein Leser geographisches
Wissen über europäische Hauptstädte hat. Doch auch ein Wissen darüber, dass der
(seriöse) Journalismus seine Quellen angibt, ist eine Implikation des
entsprechenden Textes. Personennamen erfordern ein Wissen darüber, wer die
Personen sind. Darüber hinaus ist es ein Unterschied, ob man weiß, dass es
einen Verteidigungsminister gibt oder ob man das nicht weiß, und wie derjenige,
der diese Funktion innehat, bezeichnet wird, d.h. man braucht Kenntnis über
oder zumindest eine Ahnung von dem politischen System, das der Text ebenfalls
explizit nicht thematisiert, das aber im Hintergrund steht und dem Leser
wenigstens in groben Zügen bekannt sein muss. In den genutzten Zeitungstexten
handelt es sich um ein System, das dem westlichen Demokratieverständnis
verpflichtet ist: Der Verteidigungsminister heißt nicht Kriegsminister,
aber auch nicht Friedensminister.
Ferner muss ein Leser Kenntnis von einem aktuellen
/ zeitbezogenen Sachverhalt haben. Die Inhalte der Eingangstexte sind rasch den
politischen Ereignissen in der Bundesrepublik Deutschland im Februar 2011
zuzuordnen - vor allem für Leser, die diese Vorgänge selbst miterlebt haben.
Was ein Text als bekannt voraussetzt, ist jedoch nicht immer auch dem Leser
bekannt, und eine Inkongruenz von Textimplikationen und Leserwissen steht dem
Entwurf eines konsistenten Situationsmodells entgegen. Vor allem eine
ggf. bestehende, historische Distanz zwischen Textentstehung und Lesererfahrung
erfordert bekanntlich ein mitunter nicht unerhebliches Maß an kompensatorischer
Arbeit. Nicht unerheblich für einen Leser ist außerdem die Möglichkeit,
domänenspezifisches Wissen zu aktivieren - im vorliegenden Fall wären dies
Kenntnisse über Wissenschaftsorganisation, Universitäten und
Promotionsverfahren. Letzteres impliziert auch Wertvorstellungen und einen
Moralcodex einer Gesellschaft, der dann auch noch einmal Personen des
öffentlichen Lebens mit Repräsentationsaufgaben eine besondere Verantwortung
auferlegt. Auch sind Zusammenhänge, Gepflogenheiten und Übereinkünfte der
Publikationsorgane für Artikel, die der Öffentlichkeit präsentiert werden,
nicht unerheblich. Daher wäre es auch irrig zu glauben, dass Printmedien, die
von vielen gelesen werden, eine „leichte“ Sprache verwenden. Vielmehr sind
gerade solche Publikationsorgane in hohem Maße kulturell spezifisch geprägt.
Dabei ist von einem weiten Kulturbegriff auszugehen, der Kultur als
Zugriff zur Welt versteht, über den eine Gruppe von Menschen gemeinsam verfügt
und dem sie sich verpflichtet fühlt (Heringer 2010: 108). Dieser Kulturbegriff
liegt zumindest implizit auch einer Umorientierung der traditionellen
Geisteswissenschaften in Kulturwissenschaften (und der entsprechenden
Umbenennung) zugrunde. Diese sehen es als ihre Aufgabe an, Erscheinungen dieser
Welt wissenschaftlich zu modellieren. Wissen erwerben, um verstehen zu können
und anderen künftig beim Verstehen zu helfen, sollte dem Anspruch eines
Studiums folgend nicht zufällig, willkürlich oder irrational erfolgen, sondern
sich zumindest den wissenschaftlichen Diskursen der Inhalte, auf die man stößt,
als Kontrollinstanz verpflichtet fühlen können. Dies heißt nicht, dass ein
Fremdsprachenstudium auch ein Politik-, Geschichts- und Geographiestudium sein
muss; es bedeutet aber eine grundsätzliche, von wissenschaftlicher Rationalität
geprägte Einstellung auch zu den Inhalten, die sprachlich vermittelt werden und
die prinzipiell in einer wissenschaftlichen Domäne zu verorten wären.
Wissenschaftlichen Diskursen folgen zu können, ist daher von Studierenden zu
verlangen, die ihr Wissen und ihren Wissenserwerb metakognitiv begleiten, um
dies für ihre Lehrerrolle zu nutzen.[2]
3.3
Sprachwissen
Sach- und Wissenskomponenten sind nicht von Sprache zu
lösen, und umgekehrt werden Inhalte immer sprachlich vermittelt. Mit Hilfe des
soeben beschriebenen Wissens kann auch den Texten weniger bekannter Sprachen
bis zu einem gewissen Grad Sinn zugemessen werden. Dies betrifft nicht nur die
Namen der Städte Berlin und Prag, sondern auch die
Internationalismen - in ihrer deutschen Version: Politik, Minister,
Opposition, Regierung, Plagiat, Schock, Kanzler(in),
und populär. Sie überhaupt zu erkennen, bedarf jedoch eines Wissens um
die Tatsache von Formenbeständen (nicht deren Kenntnis im Einzelnen) und der
unterschiedlichen Prinzipien von Sprachen, mit übernommenem Wortbestand zu
verfahren. Englische Übernahmen sind im Tschechischen stärker adaptiert als
etwa im Deutschen, z.B.: džus, v ofsajdu, džínsy, džíp oder čip.
Wer im schwedischen Text erkennt, dass es um eine Dissertation geht, tut
dies möglicherweise umso eher, wenn er etwas von Lautverschiebung bzw. nicht
erfolgter Lautverschiebung und von einem unterschiedlichen Skopus von Lexemen
weiß: Die deutsche Abhandlung hat eine größere Reichweite als die Dissertation.
Das heißt: Von systemischem und konventionsgesteuertem
Sprachwandel, von Sprachverwendung und Sprachsystemen, von diachronen und
synchronen Zugriffen auf Sprache, Etymologie, Zeichentheorie, der Lehre von den
Sprechakten und von Konversationsmaximen etwas zu erfahren oder davon, dass und
warum sprachliche Einheiten modelliert werden müssen - vom Laut und dem
Buchstaben bis hin zum Diskurs -, sind Elemente des sprachwissenschaftlichen
Studiums und dienen der Einsicht in das, was Sprache ausmacht und Sprecher mit
Sprache tun. Sie bilden die Grundlage für reflektierte Arbeit mit sprachlichen
Erscheinungen und sind daher nicht unerheblich für praxisrelevanten Kompetenzerwerb.
3.4 Der Fremdsprachenerwerb und die
Rolle der sogenannten Muttersprache
Eine Vorstellung von Spracherwerb dergestalt, dass einer
Erst- oder Muttersprache ggf. eine Zweit- und eine weitere Sprache folgt,
sollte spätestens seit der Alltagserfahrung mit Menschen anderer sprachlicher
und kultureller Herkunft obsolet sein. Auch eine Auffassung von Sprache als
Wörter, die gleichsam als Etiketten auf Erscheinungen der Welt geklebt und beim
Erwerb einer neuen Sprache nur ausgewechselt werden müssen, und für deren
Verknüpfung zu Sätzen es ein paar Regeln gibt, ist zwar weit verbreitet -
Cherubim (2000) spricht von einem normativen Syndrom - widerspricht aber
der aufmerksamen Beobachtung und erst recht einem wissenschaftlichen Zugriff.
Bereits unter der Voraussetzung einer linearen Abfolge von Erstsprache,
Zweitsprache und Fremdsprachen mit Wörterlernen und Grammatik gibt es
bekanntlich verschiedene Theorien, die den Spracherwerb und das Sprachenlernen
als entweder natürlich oder instruktiv begleitet favorisieren und dabei das
Verhältnis von sogenannter Muttersprache und Fremdsprache unterschiedlich
akzentuieren (Edmondson & House 2000: 134). Seit internationale
Migrationsbewegungen, und die z.T. damit verbundene, sprachliche, soziale und
kulturelle Heterogenität in den Klassenzimmern auch die öffentliche Diskussion
prägen, muss man sich von einfachen Modellen grundsätzlich verabschieden.
Realität ist, dass sich Menschen mit Sprache verständigen und zugleich mit
Sprache den Zugriff zur Welt haben – und beides nicht voneinander zu trennen
ist. Im Einzelnen bedeutet dies, dass es niemals eine absolut ‚richtige’ und
absolut ‚komplette’, abgeschlossene Sprachkompetenz gibt. Spracherwerb ist ein
offener, unabgeschlossener, lebenslanger Prozess – in jeder Sprache.
Interessant ist, was Schüler aus verschiedenen
Bundesländern und aus internationalen Schulen sowie deutschen Schulen im
Ausland zu ihrer Sprachverwendung äußern[3] (Tab. 1).
Aus der Übersicht wird der Unterschied zwischen Schülern
im Inland, an der europäischen Schule und an den deutschen Auslandsschulen
erkennbar. Einfluss auf die Sprachverwendung scheint sowohl das außerschulische
wie auch das schulische Umfeld zu nehmen. Vor allem aber werden in den verbalen
Selbsteinschätzungen der Schüler alle Varianten eines Sprachgebrauchs deutlich,
bei dem mehrere Sprachen in unterschiedlicher Weise zur Verfügung stehen.
Ich schreibe und lese türkische Briefe aber lese
keine türkischen Bücher. (FB
839)
Ich lese englische Briefe und Bücher, zuhause und
auch bei meiner Oma spreche ich englisch. Da meine Mutter Engländerin ist und
meine englische Oma in England wohnt. (FB 840)
Anstatt die Bücher in deutsch zu lesen kaufe oder
leihe ich sie mir lieber auf Englisch aus. Nach einer Weile liest es sich immer
leichter und man merkt es auch z.B. in der Schule (Wortschatz) (FB 857)
Schule
und Jahrgangsstufe
|
eine Sprache
|
zwei
Sprachen
|
drei oder mehr
Sprachen
|
Europäische Schule 9
|
50,0%
|
20,0%
|
25,0%
|
Europäische Schule 11
|
37,5%
|
41,66%
|
4,16%
|
Deutsche Auslandsschule
1/9
|
65,21%
|
21,73%
|
13,04%
|
Deutsche Auslandsschule
1/ 12
|
53,84%
|
30,76%
|
15,38%
|
Deutsche Auslandsschule
2/ 9
|
85,10%
|
12,76%
|
0,00 %
|
Deutsche Auslandsschule
2/ 12
|
62,5%
|
25,0%
|
6,25%
|
Deutsche Internationale
Schule 9
|
57,89%
|
36,84%
|
0,00%
|
Deutsche Internationale
Schule 12
|
40,0%
|
20,0%
|
40,0%
|
Gym Altes Bundesland 9
|
55,55%
|
0,00%
|
3,70%
|
Gym Altes Bundesland 12
|
27,27%
|
63,63%
|
0,00%
|
Gym Neues Bundesland 9
|
27,77%
|
0.00%
|
0,00%
|
Gym Neues Bundesland 12
|
63,68%
|
0,00%
|
0,00%
|
Tab. 1: Verwendung von Sprachen neben Deutsch
Ich
bin in Deutschland aufgewachsen, bin da in den Kindergarten gegangen und
Schule, und Deutsch ist meine 2. Muttersprache, aber ich spreche zuhause
trotzdem Lettisch. (FB 891)
Da
unsere Schule sehr viel Wert auf Sprachen legt hilft es einem, wenn man Bücher
in diesen Sprachen liest und somit sein Vokabular vergrößert. (FB 977)
Die Bilingualitäts- und Mehrsprachigkeitsforschung
spricht von code switching (als einer
absichtlich-bewussten Verwendung) und code
mixing (als einer eher Defizite überbrückenden Verwendung; Muysken 2000,
dazu auch Hufeisen 2011). Die Äußerungen der Schüler machen deutlich, dass
Sprachlichkeit heute kaum in enge Raster passt, sondern ein Phänomen flexibel
gehandhabter Sprachverwendung ist. Es existieren:
- Grade der Mehrsprachigkeit, denn kaum
beherrscht man zwei oder gar mehr Sprachen gleich und in allen
Situationen und Vewendungszusammenhängen über das ganze Leben hinweg
gleich gut;
- zeitliche Verschiebungen, wenn in
verschiedenen Phasen des Lebens verschiedene Sprachen präsent oder
dominant sind;
- eine domänenspezifische Kompetenz, die auch
vom Erwerb abhängt; denn was in einer bestimmten Lebenssituation gelernt
wurde, das wurde auch immer mit einer bestimmten Sprache gelernt;
- eine adressatenbezogene Sprachverwendung, denn
Freunde, Eltern und Bezugs- und Kontaktpersonen des näheren oder weiteren
Umfeldes haben auf die eigene Sprachverwendung Einfluss - so weit, dass
man mit bestimmten Personen in einer anderen „Sprache“ spricht als mit anderen;
- eine situationenspezifische Sprachverwendung
mit standardisierten Wendungen, die gelernt werden, um genau eine,
vielleicht immer wiederkehrende Situation zu bewältigen, andere aber
nicht;
- den Unterschied zwischen der mündlichen und
der schriftlichen Kompetenz;
- den Unterschied zwischen rezeptiver und
produktiver Fähigkeit;
- und eine vielfältige Kombination all dessen,
was in ein Klassenzimmer eine extreme Form von Heterogenität bringt.
Sprecher, die sprachlich unterschiedliche Situationen
bewältigen müssen, können nicht nur den Code wechseln, sie können Codes auch
aktiv und bewusst mischen und ihr Sprachverhalten den Erfordernissen der
Situation anpassen. In einer künftig weltweit vernetzten Gesellschaft wird dies
von entscheidender Bedeutung sein. Lehrer müssen in der Lage sein, die
Voraussetzungen der Lerner zu eruieren und Zielvorstellungen ihres Unterrichts
zu bestimmen - und diese Ziele schließlich in ihrer Unterrichtsorganisation
anzuvisieren.
4
Unterrichtsorganisation
Vermeintlich unbefragt geltende Organisationstypen von
Unterricht bezeichnete Hubert Ivo (1977: 183)
bereits als unterrichtliches Brauchtum, das er in einem Lehramtsstudium
von einer wissenschaftlich fundierten Fachdidaktik abgelöst sehen möchte. Ein
weit verbreitetes Muster des Brauchtums besteht in einem der Pädagogik
des späten 19. Jahrhunderts (Herbart und Nachfolger) verpflichteten und nach
Phasen gegliederten Unterrichtsablaufs mit Einstieg, Erarbeitung durch
Hinführungsfragen, Vertiefung bzw. Transfer, Ergebnissicherung und
Zusammenfassung und / oder Ausblick - mit gewissen Variationen (Meyer 2006).
Das Muster hat seine Logik und ist vor allem sehr zielführend. Es geht jedoch
von zwei Annahmen aus: zum einen, dass eine Lehrperson bei allen ihren
Adressaten an dieselben Voraussetzungen anknüpfen und zum anderen, dass sie sie
zu einem wiederum für alle identischen Ergebnis führen kann. Weder das eine
noch das andere ist für alle Situationen der sprachlichen Vermittlung im
Unterricht zutreffend. Die Komplexität des Gegenstandes Sprache (ein
kulturelles Phänomen mit Referenzcharakter seiner Inhalte), die Realität der
Produktion und Rezeption (Kommunikat Text im Verstehensprozess) sowie
die Situation in einer Lernergruppe, die von der Heterogenität ihrer
Sprachkompetenz (und zwar in den verschiedenen Codes) geprägt ist, verlangt von
der Lehrperson die Kenntnis auch anderer Planungs- und Organisationsmuster.
Diese werden meist als neue Verfahren, als Alternativen und unter Schlagworten
wie Freiarbeit, Stationenlernen, Lernzirkel, Projektmethode,
Projektarbeit oder Wochenplan gehandelt (z.B. Bönsch 2000). Sie
sind alles andere als neu und in ihren jeweiligen Ursprüngen bestimmten
pädagogischen Konzepten der Praxis - vor allem aber wissenschaftlichen
Lerntheorien - verpflichtet. Heutzutage scheint die Kognitionspsychologie die
stringenten Reiz-Reaktionsschemata des Behaviorismus abgelöst zu haben. Wenn
Studierende auch davon in in ihrem Studium etwas „lernen“, so ist jedenfalls festzuhalten, dass dies weder
abgehobene Theorien sind noch dass sie damit den Unterricht „üben“ sollen. Auch
soll die Kenntnis einer Vielfalt von Möglichkeiten der Unterrichtsorganisation,
mitsamt der ihnen zugrundeliegenden Theorien und der bildungsgeschichtlichen
Situation, aus der sie stammen, weder Verwirrung stiften noch der Abwechslung
als Wert an sich dienen. Vielmehr soll das Lernen mit Blick auf das Lehren die
Fähigkeit befördern, verantwortungsvoll den Gegenständen (Sprache, Texte) und
den Adressaten (Lernern) gegenüber aufzutreten. Der Heterogenität der Lerner,
der Realität der Sprachverwendung und Sprachnutzung kann nur eine Lehrperson
gerecht werden, die ein methodisch-organisatorisches Repertoire zur Verfügung
hat und dieses souverän und verantwortungsvoll im Sinne der oben profilierten
niveauvollen Tätigkeit (HRK 2004: 56f)
einsetzt. Das Zusammenspiel aller Komponenten eines (Fremd)(Sprachen)Studiums -
und dies gilt für alle Lehramtsstudiengänge - vermittelt Kenntnisse, ermöglicht
die metakognitive Begleitung des Erwerbs im Sinne einer Perspektive auf die
Vermittlungsarbeit und befähigt zu begründbaren Entscheidungen in der
aktuellen, praktischen Situation im Klassenzimmer: zum Lesen und Verstehen von
Texten, zur Diagnose und zur Förderung, die mehr ist als nur ein Ausgleich von
Defiziten (die unter bestimmten Interessenslagen ggf. gar nicht bestehen) – und
dies mit metakognitiv und theoretisch grundgelegtem Blick auf den eigenen Erkenntnisprozess
und den eigenen Wissenserwerb. Damit
- kann eine Lehrperson Zielvorstellungen definieren (native, near native oder ganz andere);
- Lehrwerke souverän nutzen und kultusministerielle Vorgaben nicht als Zwang begreifen;
- weiß sie von fließenden Grenzen zwischen Muttersprache, Zweitsprache und Fremdsprache und kann unterschiedliche Herkunftssprachen einbeziehen.
Und die Lehrkraft kennt Strategien, die in bestimmten
Situationen nützlich sind und kann sie an ihre Lerner weitergeben:
Internationalismen, Vortasten über Inseln und Vorentlasten durch
Wissensvermittlung. Sie weiß um die Motivationsförderung auch durch Teilerfolge.
Auch dies sollte das didaktische Experiment des Einstiegs zeigen.
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Comprehension. In Britton, Bruce K. / Graesser, Arthur (Hrsg.). Models of understanding Text. Mahwah NJ:
Lawrence Erlbaum, 241-256.
[1] Das Verstehensmodell bezieht sich aufgrund seines prinzipiellen Charakters
auch auf solche Texte, die als „literarische“ rezipiert werden (Zwaan 1996).
Damit ist im Umkehrschluss die Voraussetzung impliziert, dass es nicht
Literatur als ein abgegrenztes Korpus von Texten „gibt“, sondern dass es sich
um ein Rezeptionsphänomen handelt; da der Beitrag als Beispiele sogenannte
Sachtexte heranzieht und es um Prinzipielles eines Studiums geht, werden hier
als literarisch rezipierte Texte nicht gesondert berücksichtigt.
[2] Im Übrigen gilt genau dies für
literaturwissenschaftliche Zugriffe und deren Paradigmen, auf die jedoch hier
nicht näher eingegangen werden kann; s. oben.
[3] Dazu ausführlicher Karg 2003;
die Befunde stammen aus einem Forschungsprojekt, das bereits einige Jahre
zurückliegt. Die Darstellung bei Karg (2003; 117-122) folgt etwas anderen
Prinzipien, jedoch auf der Grundlage derselben Datensätze. Damit wird weder für
die Zeit der Erhebung noch erst recht nicht für die Gegenwart Repräsentativität
beansprucht. Als „Bodenproben“ veranschaulichen die Befunde jedoch potentielle
Situationen, die Lehrpersonen in Klassenzimmern vorfinden können.