Wissenschaftlicher Sammelband, herausgegeben von Thomas Tinnefeld unter Mitarbeit von Ines-A. Busch-Lauer, Hans Giessen, Michael Langner, Adelheid Schumann. Saarbrücken: htw saar 2012. ISBN 978-3-942949-00-2.


Die Rolle des emotionalen Lernens
beim Fremdsprachenerwerb

Angela Weißhaar (Mainz / Bremen / Göttingen )


Abstract (English)
In this article, the term emotional learning, which has almost exclusively been used in the field of neurodidactics, is extended to linguistics. On the basis of three events, narrated by three informants in their respective mother tongues (L1; Italian or French) and also in their L2 (German), it is shown that a person’s emotional memory works differently in L1 and L2: emotions are not expressed identically. The reason for this phenomenon seems to be a less intensive control of the emotion processing limbic system of the human brain by the prefrontal cortex (PFC). Evidence of bilinguals often hint to new images of themselves and others: L2 acquisition can help learners to re-define themselves even emotionally in the acquisition of new linguistic and (inter)cultural knowledge.
Key words: Emotional learning, language acquisition, neurodidactics, emotional memory, cerebral processes

Abstract (Deutsch)
Der bis dato im Bereich der Neurodidaktik verwendete Terminus emotionales Lernen wird in diesem Beitrag auf die Linguistik ausgeweitet. Anhand von drei, von den Probanden jeweils in ihrer Muttersprache (L1; Italienisch oder Französisch) und ebenfalls in ihrer Fremdsprache (L2; Deutsch) erzählten Ereignissen, die sich an ihrem Arbeitsplatz ereignet hatten, ist erkennbar, dass das emotionale Gedächtnis eines Menschen in L1 und L2 unterschiedlich arbeitet: Emotionen werden nicht identisch wiedergegeben. Ursächlich verbirgt sich hinter diesem Phänomen in L2 offenbar eine weniger intensive Kontrolle des gefühlsverarbeitenden limbischen Systems des menschlichen Gehirns durch den präfrontalen Kortex (PFC). Aussagen von Spätbilingualen verweisen zudem nicht selten auf in der L2 neu erlernte Selbst- und Fremdbilder: Der L2-Erwerb kann Lerner unterstützen, sich beim Erwerb neuen Sprach- (und Kultur-)Wissens auch emotional neu zu definieren.
Stichwörter: Emotionales Lernen, Fremdsprachenerwerb, Neurodidaktik, emotionales Gedächtnis,  zerebrale Prozesse




1   Einführung

Der Terminus emotionales Lernen wird allgemein und häufig verwendet, doch definiert wird er nur ansatzweise. Oft wird in diesem Zusammenhang auf Overmann (2002) und seinen Aufsatz mit dem vielsagenden Titel Emotionales Lernen - Sentio ergo cognosco referiert. Der Terminus emotionales Lernen leitet sich offenkundig von dem Begriff emotionale Intelligenz ab, der wiederum auf Peter Salovey und John Mayer (1990) zurückgeht, implizit das Erkennen eigener Emotionen bedeutet  zusätzlich zu denen der anderen – und im weiteren Sinne Empathie sowie die Fähigkeit umfasst, mit Emotionen angemessen umzugehen und die Emotionen anderer zu beeinflussen. Daniel Goleman hat ihm dann mit Hilfe seines Werks Emotional Intelligence (1995) zu weiterer Popularität verholfen. Unlängst stellten Blickle et al. (2011) einen signifikanten Zusammenhang zwischen emotionaler Intelligenz und beruflichem Erfolg fest: Nicht der Ehrgeiz allein reicht unbedingt, um weiterzukommen; es bedarf zusätzlich emotionaler Intelligenz, was hinsichtlich des Fremdsprachenerwerbs und des Fremdsprachenunterrichts für eine Förderung derselben spricht: Die Erlernung einer Fremdsprache erfolgt ja – wenn die Motivation hierfür nicht bereits auf einem rein genuinen Interesse an Fremdsprachen beruht  in vielen Fällen im berufsvorbereitenden Kontext der Schule oder im Rahmen beruflicher Weiterbildung.

Overmann definiert nicht das emotionale Lernen an sich, vermittelt uns aber wesentliche Hintergrundgedanken: Er verweist z.B. auf Damasio (1997, 2000), der im Wesentlichen herausgearbeitet hat, dass das menschliche Gehirn nicht nur rational arbeitet, sondern dass die Ratio untrennbar verbunden ist mit der Verarbeitung von Emotionen (Overmann 2005: 18f.). Damasio (1997: 25ff.) bringt u. a. das Beispiel des amerikanischen Vorarbeiters Phineas Gage (1823-1860), dessen Gehirn in seiner emotionalen Verarbeitung auf Grund einer Verletzung des Stirnhirns – in dem u.a. die Kontrolle über die Emotionen erfolgt – unwiederbringlich gestört war. Diese Störung hatte nicht zuletzt ein gestörtes Sozialverhalten zur Folge und wirkte sich zugleich auf logisch-rationales Verhalten aus:

Emotionen spielen bei der Aufnahme, Speicherung und Wiedergabe von Informationen eine wesentliche Rolle, weil sie Gedanken und Ideen nicht nur verbinden, sondern auch initiieren, energetisieren und bewerten. Der Prozess des Lernens und die Konstruktion des Wissens müssen mit allen Sinnen angeregt werden, um durch die divergierende psycho-emotionale Stimulierung der Gehirnaktivitäten den Aufbau und die Verankerung von Wissen in einem multimodalen neuronalen Netzwerk zu begünstigen, wo neues mit Altem nur verschmelzen kann, wenn bekannte Wege über synaptische Weichen zur Erfindung einer neuen Welt führen (Overmann 2005: 12). 

Overmann (2002: 1, 2005: 14) stellt fest, dass das emotionale Lernen bislang in der Forschungsliteratur „eher stiefmütterlich” behandelt worden sei, da Emotionen nur schwer zu fassen seien. Der Autor will eine „multimodale Didaktik des Lernens mit allen Sinnen” (Overmann 2005: 15). Der Terminus emotionales Lernen wird so bereits zu Beginn seiner Einführung im neurodidaktischen Kontext verwendet (Arnold 2002). Das Interesse an der Lernerbefindlichkeit und der Lernatmosphäre ist in den letzten Jahren  besonders auch im Bereich der Motivationsforschung  gewachsen (Overmann 2002: 1). Im vorliegenden Zusammenhang soll der Begriff emotionales Lernen verstanden werden als Lernen mit Hilfe von Emotionen und einer emotionalen Verankerung und Versprachlichung von Emotionen in der gelernten Fremdsprache. Dass Emotionen für das Lernen von erheblicher Bedeutung sind, zeigt sich besonders im Kontext von Gedächtnisleistungen. In diesen Zusammenhang gehört dann auch der Terminus emotionales Gedächtnis.

Im Folgenden sollen zur Veranschaulichung der angesprochenen Zusammenhänge jeweils von Probanden in deren Muttersprache (L1) und der Fremdsprache Deutsch (L2) erzählte Ereignisse aus ihrem Arbeitsleben in Deutschland als Beispiele herangezogen werden. Die jeweiligen L1- und L2-Versionen weisen Unterschiede in der Wiedergabe von Emotionen auf. Die Ereignisse wurden von den Probanden zunächst in der Fremdsprache Deutsch, dann in ihrer Muttersprache - Italienisch bzw. Französisch - erzählt. Zwischen beiden Erzählungen lag ein Zeitraum von etwa 30 Minuten, in dem die Probanden Fragen zu ihrem Umgang mit der Fremdsprache beantworteten.

In der Transkription der aufgenommenen Texte werden Erzählpausen in Abhängigkeit von ihrer Länge durch Plus-Zeichen (+, ++ etc.) symbolisiert. Unverständliche Wörter werden durch Fragezeichen markiert. 


2   Analyse der Aufnahmen

Bei den Probanden handelt es sich um Migranten mit Berufen, in denen auch viele ihrer Landsleute in Deutschland arbeiten: ein italienischer Eiscafé-Besitzer, eine italienische Kellnerin in einem Eiscafé und eine französische Lehrerin (vgl. hierzu auch Weißhaar (im Druck)). Sie leben seit einer unterschiedlichen Anzahl von Jahren in Deutschland (von etwa 2 Jahren bis zu über 20 Jahren) und weisen verschiedene fremdsprachliche Kompetenzniveaus auf. Dabei fällt auf, dass die Unterschiede im emotionalen Ausdruck in L1 und L2 hier sowohl bei kürzerem als auch bei längerem L2-Erwerb zu finden sind.

Proband A (L1 Italienisch):

Ereignis auf Deutsch
So, mein Name ist P. A. Ich bin ähm+ Deutschland gekommen vor vier Jahren. Und äh+ ich bin in Deutschland gekommen. Ich konnt‘ überhaupt kein Deutsch sprechen, he? Erste Mal ist passiert: Ich bin an Tische gegangen. Ich weiß, ich hab‘ versucht, ein bisschen arbeiten. Und da ein Kunde hat zu mir gesagt: „Ich möchte gern eine Bier mit Blume, ne? Und in dem Moment, ich habe+ ich habe versucht: Was bedeutet Bier mit Blume? Äh+ ich habe+ ein Bier mit Blume+ Ich habe gedacht: Bier ist Bier. Ich weiß, was bedeutet. Aber Blume, na. Ich habe versucht: Ja, ich trink‘ gerne Bier. Und ich find‘ sehr schön Blume. Also passt auch nicht. Deswegen erste Mal diese+ die erste Schwierigkeit ich hab‘ wirklich Bange gehabt.

Ereignis auf Italienisch
L1: Ehm+ mi chiamo P. A. Vengo dall‘Italia. Eh+ sono arrivato di D. in Germania quattro anni fa. Eh+ non sapevo parlare il tedesco. Ehm+ ho cercato tutto+ di lavorare come cameriere. Ähm ja [Codeswitching in die L2, A.W.]+ sono andato al tavolo. Cercavo di servire un cliente. E lui mi ha chiesto: ”Io voglio una birra+ con eh+ il fiore.“ Io non sapendo che cosa+ cercavo di capire che cosa è birra+ una birra e fiore. Il fiore è il fiore. La birra è birra. Ah. Queste sono le difficoltà che ho avuto con la lingua perché molte volte ci sono molte parole che sono un po‘ diverse da+ dalla+ mia madre lingua. (Weißhaar 2009: 11)

Der Erzähler spricht nur in seiner L2 Deutsch von seiner „Bange“, die er angesichts seiner Verständnisschwierigkeiten bezüglich des polysemen deutschen Nomens „Blume“ empfindet. Nur hier schildert er seinen Versuch, dem Gast etwas zu antworten. Dagegen erscheint der Bezug zu seinem Heimatland und zu deutsch-italienischen Sprachunterschieden nur in der L1, wo auch eine Reflexion stattfindet.

Probandin B (L1 Italienisch):

Ereignis auf Deutsch
L2: Gut, ich bin+ ich hab’ gearbeit bei griechische Restaurant. Ich bin Italienerin. War sehr gut, aber einmal ist was passiert. Ich hab’ bedient draußen und war voll. Und ich hab’ voll Tablette mit Getränken. Und kommt hinter mir ein Hund+ ein großer Hund. Weil ich hab Angst, wirklich, von Hund. Und ähm+ genau in meine [sie lacht]+ wie kann man sagen? Popo? hat geleckt. Und dann hab’ ich alles runter, alles Tabletten mit Glas bei Gast. So hab’ ich eine Frau voll nass Bier. Und die haben alle gelacht, alle gelacht. Und mein Chef hat was gehört, so viel Krach. Sagt: „Was ist los? Was hast du gemacht?“ Ich sag: „Ja+ ich hab’ Angst vorn Hund. War eine große Hund.“ Was hab‘ ich alles ähm+ sagen mal und+ ich alles ähm+ sagen mal und+ tja+ Oh, ich war ganz rot in Gesicht halt [sie lacht]. So, jetzt++ 
Ereignis auf Italienisch
L1: Oh, io ho lavorato in un ristorante greco. E faccevo cameriera. Servivo i tavoli fuori. Ho una trentina di tavoli, un vassoio pieno di bibite e stavo servendo. A un certo punto arriva un grosso cane eh+ dietro me che mi voleva+ non so+ Mi ha leccato il sedere [sie lacht].
E io, a un certo punto, ho rovesciato tutto il vassoio coi bicchieri e+ o+ ?like? ho rovesciato un+ adosso a una donna un bicchiere di birra. L‘ho bagnata tutta+ E be+ (aus: Weißhaar 2009: 12)

Der deutsche Text ist länger als der italienische. Die Erzählerin erklärt, dass sie als Italienerin in einem griechischen Restaurant arbeitet. Die Erwähnung des Chefs fehlt im Italienischen, ebenfalls Lachen und Gesichtsrötung. Es tauchen keine Empfindungen auf: Die Stimmung auf Deutsch ist gut („die haben alle gelacht, alle gelacht“). Ihre eigene Befindlichkeit ist „sehr gut“, womit sie mitteilt, dass ihr Job ihr gefällt. Die Passagen „ich hab Angst, wirklich, von Hund“, „ich hab Angst vorn Hund“, „war ganz rot in Gesicht“ kommen im Italienischen nicht vor. Es gibt keine wörtliche Rede im Italienischen, im Deutschen dagegen schon: Die Kommunikation mit ihrem Chef – die im Italienischen gar nicht auftaucht - wird in wörtlicher Rede wiedergegeben.

Probandin C (L1 Französisch):

Ereignis auf Deutsch
L2: Ja, das fällt mir ein. Das ist vor vielen Jahren. Ich hatte Geburtstag an dem+ an dem Tag. Und mh ++ ich äh+ Mein Wecker hat nicht geklingelt oder ich habe den+ Also ich hab verschlafen. Und ähm+ ich habe+ Also, ich bin ganz schnell runter zur Schule. Und hab ich mir gedacht: „Ach Mensch äh+ Ich hoffe, alles geht gut.“ Und ähm+ parke das Auto vor der Schule. Und wen seh ich vor der Schule? Der Schuldirektor. Natürlich nicht an meinen Geburtstag gedacht. Ich sag: „Mensch, zu spät gekommen. Der wird wahrscheinlich sagen: „Ja, Frau A., Sie kommen zu spät.“ Und ich war bisschen so+ also so mit klopfendem Herzen. Äh+ (sie lacht) bin ich da die Treppe hoch gegangen. Und dann empfängt mir der+ der Schuldirektor: „Alles Gute zum Geburtstag (sie lacht), Frau A.! Auf Sie gewartet, um Ihnen einen schönen Geburtstag zu wünschen.“ Das war natürlich sehr schön für mich. So, das ist diese kleine Anekdote, die ich Ihnen erzählen möchte. (...) Nein, der hat+ er hat sogar gesagt: „Wissen Sie, warum ich da stehe?“ (sie seufzt) Ja, was soll ich ihm sagen? Dass ich sage, dass ich zu spät? Ich sag: „Nein, ich weiß nicht?“ „Weil Sie Geburtstag haben! So, das war‘s. Das war diese+ diese Erinnerung.

Ereignis auf Französisch
L1: Alors ++++ il y a quelques années euh+, je m‘étais levée un peu tard pour aller à l‘école. Et j‘étais déjà en retard. Et quand+ quand je suis arrivée euh+ devant le lycée, j‘ai vu le directeur qui m‘attendait. Il était tout seul. Et j‘avais un peu peur euh+ qu‘il me fasse des réflexions à cause de mon retard. Et quand je suis arrivée, il m‘a dit: „Vous savez pourquoi je vous attends?“ Et j‘ai dit: „Non, je sais pas.“ „Parce que vous avez votre anniversaire. Bon anniversaire, Madame A.!“ Voilà.

Der deutsche Text ist länger und informativer. Hier versucht die Erzählerin zunächst, ihr Verschlafen mit dem fehlenden Klingeln ihres Weckers zu erklären. Ihre Sorgen anlässlich des zu späten Ankommens in der Schule stellt sie umfangreicher dar als im Französischen. Das Gleiche gilt für die Begegnung mit dem Schuldirektor und ihre vorausgehenden sorgenvollen Überlegungen („mit klopfendem Herzen“). Sie nennt dieses Erlebnis eine Anekdote, was im Französischen so viel wie eine kleine interessante Begebenheit ist. Der Petit Robert gibt folgende Definition:

Particularité historique, petit fait curieux dont le récit peut éclairer le dessous des choses“
(Rey & Rey-Debove 1984: 68)

Die Erzählerin empfindet die Gratulation des Direktors zudem als „sehr schön“. Die Erinnerung daran scheint ihr sehr angenehm zu sein. Sie korrigiert sich sogar noch einmal, um die Situation in einer Variation zu beschreiben. In der französischen Version dagegen fehlen ihre inneren Gemütsbewegungen – sowohl Sorge als auch Freude – vollständig, so dass diese entsprechend nüchtern erscheint.


3   Sprache und Emotionen

Auch Koven (2004) oder Pavlenko (2005) z.B. beschreiben eine unterschiedliche Darstellung von Emotionen in L1 und L2. Der Terminus Emotion wird zumeist im Sinne positiver und negativer Empfindungen und auch von Stimmungen allgemein verstanden (Tsiknaki 2005: 23 ff., Spitzer 2000: 323), auch wenn einzelne Autoren  wie z.B. Davidson et al. (2000)  „positive“ und „negative Emotionen“ explizit unterscheiden1. Einzig bei Siebel (1994) werden Emotionen genauer als genuine positive Gefühle verstanden, die sich unterscheiden von sogenannten, geistig aktivierbaren Animationen (Siebel 1994: 138)  wie z.B. Freude, die die Emotion Gewissheit zu wecken vermag – oder von Sensationen (wie z.B. Sorge oder Trauer), die gedacht sind und Emotionen beeinträchtigen. Bereits im Jahre 1960 hatte Jakobson (1960/1974) die emotive als eine der wichtigsten Sprachfunktionen benannt, die die Persönlichkeit des Sprechers und seine Emotionen zum Ausdruck bringe. Doch ist der Zusammenhang von Sprache und Emotionen sowohl in der Linguistik als auch in der Psychologie erst seit den 1970er Jahren zum eigentlichen Forschungsgegenstand geworden (Battacchi et al. 1997: 9). Mittlerweile hat er sich beinahe zu „one of the fashionable topics“ (Hielscher 2003a: 469) entwickelt, und dieses gleich in mehreren Wissenschaftsbereichen: Psychologie, Philosophie, Ethnologie, Soziologie und auch Linguistik.


4   Das emotionale Gedächtnis

4.1 Grundlagen

Es ist bekannt, dass Emotionen einen besonderen Effekt auf die Erinnerung haben. LeDoux (1994) spricht vom emotional memory mit Sitz im limbischen System des Gehirns, wobei als die bis dato besonders intensiv untersuchte Emotion die Empfindung der Furcht gilt:

Das limbische System ist der Filter, den die Informationen für das episodische Gedächtnis (wie wohl auch die meisten Fakten des Wissenssystems) zu passieren haben. Es ist zugleich die Instanz, die relevante Inhalte aussortiert, mit Emotionen versieht und wahrscheinlich bündelt, mithin synchronisiert, bevor sie sie bestimmten Bezirken der Hirnrinde zur Ablagerung zuordnet – etwa wie bei der Postverteilung (Markowitsch 2002: 57).

Das limbische System befindet sich im tief gelegenen, subcortikalen Bereich des Gehirns. Hierzu gehören Organe wie der Hippocampus (besonders auch zuständig für die Speicherung von Langzeiterinnerungen) oder die Mandelkerne (Amygdala) (hierzu Birbaumer / Schmidt 2006: 80).

So können auch Texte besser memoriert werden, wenn sie für den Rezipienten emotional Relevantes enthalten, „vor allem, wenn tatsächlich entsprechende Emotionen beim Rezipienten ausgelöst werden“ (Hielscher 2003b: 688). Die oben genannten Beispieltexte legen die Schlussfolgerung nahe, dass das emotionale Gedächtnis in L1 und L2 einen unterschiedlichen Zugang auf abgespeicherte Ereignisse hat.


4.2  Die Rolle des präfrontalen Kortex

Das limbische System wird in seiner Arbeit vom präfrontalen Kortex (PFC) kontrolliert (hierzu besonders auch Damasio 2004):

Die Inhalte unserer Wahrnehmung können in unser Bewusstsein gelangen, sind jedoch sozusagen unterwegs schon angefärbt von unterbewussten und/oder bewussten Anschauungen: Alle Informationen über die Sinnesorgane Augen, Ohren und Haut gelangen erst in den Thalamus und werden dann, bevor sie – wenn überhaupt – ins Bewusstsein gelangen, vom Frontalhirn (synonym: Stirnhirn oder auch präfrontale Rinde; Areae 47 und 11[2], das Unterbewusste des Geistes) zensiert, angefärbt oder auch verfälscht (Siebel 1994: 33).


Philiastides et al. (2011) fanden entsprechend heraus, dass menschliche Entscheidungen, von denen viele unbewusst sind, im Bereich des PFC – hier des dorsolateralen Teils   getroffen werden. Dabei kann es  je nach Aktivitätsstärke – durchaus auch zu falschen Entscheidungen und beeinträchtigten Gedächtnisleistungen kommen. Ochsner et al. (2002) zeigen beispielsweise, dass das limbische System umso weniger aktiv ist, je stärker der PFC feuert.
Bezogen auf die hier präsentierten Erzähltexte kann somit auf Grund der Tatsache, dass Emotionales z. B. stärker in den fremdsprachlichen Versionen hervortritt, darauf geschlossen werden, dass der PFC das emotionale System in geringerem Umfang in L2 als in L1 kontrolliert. Diese Erkenntnis wurde bereits von Siebel im Rahmen eines seiner Seminare zur Konfliktforschung dargelegt – dort bis dato nur mündlich, veröffentlicht in Weißhaar (2009: 179): „Das Frontalhirn (= die Areae 47/11 des PFC, A. W.) kennt keine Fremdsprache.“ Auch die Untersuchungsergebnisse von Klein et al. (1995) oder Golestani et al. (2006) weisen auf eine stärkere Aktivität des orbitofrontalen Kortex; Spitzer (2004: 164ff.) spricht hier vom “Bewertungscortex”. Und Abutalebi & Green (2007) gehen von einer zentralen Rolle des PFC bei der Sprachverarbeitung bilingualer Sprecher aus, da er eine strategische Position einnehme und Verbindungen zwischen ihm und einer Vielzahl neokortikaler und subkortikaler Regionen bestehen. Als eine zentrale Verbindungsstelle zwischen dem PFC und emotionsverarbeitenden Regionen  z. B. den Amygdala  wird in etlichen Arbeiten zudem der sogenannte ACC (anteriorer cingulärer Kortex)[3] (z. B. Grawe 2004: 148), der entsprechend aus einem affektiven und einem kognitiven Teil besteht, betrachtet. Abutalebi et al. (2007) stellten beim Switching in die jeweils schwächere Sprache (in diesem Falle die L1) bei Probanden eine erhöhte Aktivität des ACC fest.

Freund (1994: 106) legt dar, dass im Zuge der Menschheitsgeschichte sämtliche im menschlichen Gehirn verarbeiteten Verhaltensweisen, Emotionen und Motivationen „von einem zunehmend dominant werdenden verbalen Sprachsystem erfasst [werden]. Damit einher geht die Entwicklung eines Konzeptes der Selbstkontrolle.“ Letzteres wird durch das Frontalhirn geleistet, das sich parallel hierzu entwickelt und für den „Abgleich mit Gedächtnisinhalten“ (Freund 1994: 104) hinsichtlich der Bewertung von Handlungszusammenhängen eine wichtige Rolle spielt. In der Gehirnentwicklung des heutigen Menschen ist der Bereich des präfrontalen Kortex im Alter von bis zu sechs (Creutzfeldt 1983: 311) oder sieben Jahren (Lurija 1992: 90) abgeschlossen. Nach Creutzfeldt oder auch Gogtay et al. (2004) handelt es sich dabei um den in der Individualentwicklung des Gehirns zuletzt abgeschlossenen Bereich.

In der Diskussion um die Frage, bis wann ein Kind seine Muttersprache erworben hat, existieren unterschiedliche Einschätzungen hinsichtlich der sogenannten Critical-Period-Hypothese. Der sehr frühe Vertreter dieser Hypothese  Lenneberg (1967)  geht noch davon aus, dass der Mutterspracherwerb im Alter von 11 bis 14 Jahren abgeschlossen ist. Im Rahmen neuerer Ansätze wird hingegen davon ausgegangen, dass dieses im Alter von sechs Jahren (s. Pinker 1994) oder kurz danach der Fall sei. Friederici (2005) nennt hier das achte Lebensjahr, da ein Kind dann seine grammatische Entwicklung abgeschlossen habe. Nach Hahne & Friederici (2001) ist es dem Kind etwa um diese Zeit möglich, syntaktische Strukturierungen automatisiert vorzunehmen. Die automatisierte Verarbeitung der Syntax stellt ein Kriterium dar, durch das sich Mutter- und Fremdsprachler voneinander unterscheiden lassen: Bei Fremdsprachlern stellt sich üblicherweise ein geringerer Automatisierungsgrad ein als bei Muttersprachlern (s. auch Wartenburger 2004: 56). Siebel (1994) nennt in diesem Zusammenhang zudem als kritischen Zeitpunkt das Ende der ‚vorlogischen’ Phase: In dieser entwickelt ein Kind seinen Lebensstil  also sein unterbewusstes Lebenskonzept  dessen Speicherung im PFC erfolgt. Diese Phase kann bis zum Alter von sechs bis sieben  oder auch bisweilen acht  Jahren dauern und verläuft parallel zum Erwerb der Muttersprache. So weisen offenbar der L1-Erwerb, die physiologische Entwicklung des präfrontalen Kortex und die Entwicklung eines eigenen, durch die Sozialisation bedingten, Lebenskonzeptes und Wertesystems zeitliche Verlaufsparallelen auf.


5   Das Empfinden der Sprecherpersönlichkeit

Nicht nur in den vorgestellten Texten, sondern auch in den Aussagen etlicher Spätbilingualer finden sich Hinweise auf einen unterschiedlichen Umgang mit inneren Befindlichkeiten in L1 und L2 (Weißhaar 2009: 204ff.). Nach Mead werde ein, eine Fremdsprache lernender Mensch geradezu „auch zu einem anderen Menschen“. Er erlerne neben der Sprache auch „das hinter ihr stehende Leben“ (Mead 1973: 331). Und Amati Mehler et al. (1993: 140) zitieren einen ihrer mehrsprachigen Befragten, der sagt:

Je me sens différent, une autre personne dans chaque langue.

Koller (2002) spricht von einem „sprachlichen Doppelleben“ und daraus entstehenden Dissonanzen kognitiver und emotionaler Art, denen man sich stellen, mit denen man leben, irgendwie fertig werden muss“ (2002: 328). Eine „zweite Lebenssprache“ z. B. könne sogar hilfreich sein, die eigene Identität „neu oder jedenfalls anders zu definieren“. So entstehe ein neuer Umgang mit dem eigenen Selbstbild und mit Fremdbildern[4].

Ein weiteres Beispiel besonderer emotionaler Befindlichkeit, der Entstehung neuer Selbst- oder Fremdbilder und zugleich  in der Regel  besonderen Lernerfolgs ist für etliche – insbesondere Schüler  die Teilnahme an Austauschprogrammen. Dies wurde von Thomas et al. (2007) in einer Befragung in Deutschland lebender Teilnehmer verschiedener Austauschprogramme festgestellt. Fast alle Befragten  auch diejenigen, deren Begegnungen mit den Menschen des Gastlandes möglicherweise nicht so positiv wie erhofft verlaufen waren  teilten ein positives Empfinden bezüglich ihrer Auslandsaufenthalte und vorteilhafte Veränderungen ihrer Persönlichkeit mit, z. B. als Folge neu gewonnener Selbstständigkeit und erweiterter sozialer Kompetenz (hierzu auch Abt et al. 2006).

Bereits Marschollek (2002) resümierte als Ergebnis seiner Untersuchung bezüglich der Frage, welche Wirkung ein bereits in der Primarstufe angelegter Fremdsprachenunterricht bei Kindern zeige, dass diese durch den Unterricht kognitiv und affektiv flexibler  d. h. auch aufgeschlossener gegenüber anderen Kulturen und Denkweisen  werden.


6   Fazit

Das emotionale Gedächtnis arbeitet in Mutter- und Fremdsprache unterschiedlich: Das limbische System unterliegt offenbar in der Fremdsprache einer geringeren Kontrolle durch den PFC, so dass in der L2 mehr emotionale Informationen versprachlicht werden. Für einige Fremdsprachenlerner zeigen sich sogar Auswirkungen auf ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung. Und für etliche Lerner  selbst bei zunächst nicht übermäßig an der Fremdsprache Interessierten  stellen sich positive Empfindungen - insbesondere durch den direkten Kontakt mit Land und Leuten bei Auslandsaufenthalten  ein[5]. So scheint der Erwerb einer Fremdsprache und der Umgang mit ihr – so wie ein abwechslungsreicher Unterricht (hierzu z. B. Norddeutsches GÜTE-Konsortium 2003) – grundsätzlich im Hinblick auf die Produktion eigener Texte in der L2, den Umgang mit Muttersprachlern der L2 und die Auseinandersetzung mit der L2-Kultur gute Chancen für die Verankerung positiver Erfahrungen und somit für emotionales Lernen zu bieten.



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[1]  Zur Diskussion und Definition von Emotionen vgl. Weißhaar (2009: 179ff.).
[2]  Die beiden Hirnregionen Area 47 und Area 11 – bereits in der auf der Basis von Korbinian Brodmann erstellten Gehirnfunktionskarte von Kleist (1934) als diejenigen klassifiziert – befinden sich im orbitofrontalen (= über der Augenhöhle gelegenen) PFC (s. Abb. 1). Hier werden menschliche Einstellungen wie „Gesinnungen, gesinnungsmäßige Handlungen, Ausdauer“ gespeichert. Wird dieser Hirnbereich verletzt, sind Störungen des „Gemeinschafts-Ichs“ und „Selbst-Ichs“ die Folge. Dies betrifft so genannte „Gesinnungen“, auch solche religiöser Natur (Kleist 1934: 1184 ff.; vgl. auch Damasio 2004).
[3]  Dieser ist im vorderen Teil des in Abb. 1 zu findenden Gyrus cingulus situiert.
[4] Hinsichtlich detaillierterer Informationen zu dem Bereich Sprache und Persönlichkeit vgl. Weißhaar 2009: 204ff.
[5]  Wie gut der direkte Kontakt mit Menschen anderer Kulturen auch das Interesse von Kindern für fremde Sprachen und Kulturen und den Abbau von Vorurteilen unterstützt, zeigt z. B. das Projekt Didenheim im Elsass, das im Zuge der Bewegung Éveil aux langues mit dem Ziel des frühen Hinführens von Kindern in die Mehrsprachigkeit und des Schärfens des Bewusstseins für verschiedene Sprachen durchgeführt wurde (Hélot 2007: 203ff., Candelier 2005). Es handelte sich bei den Kindern um multikulturelle Gruppen: Eltern und Lehrer stellten im Zuge gemeinsamer Aktivitäten (z. B. Kochen) ihre Muttersprachen und Herkunftskulturen oder auch Fremdsprachen und fremde Kulturen vor. So wurden für die Kinder sogar zunächst nicht so beliebte Sprachen wie Deutsch oder auch Arabisch interessant.