Wissenschaftlicher Sammelband, herausgegeben von Thomas Tinnefeld unter Mitarbeit von Ines-A. Busch-Lauer, Hans Giessen, Michael Langner, Adelheid Schumann. Saarbrücken: htw saar 2012. ISBN 978-3-942949-00-2.


Digitale Medien, E-Learning – und was „sagt“ unser Gehirn dazu?
                                                                                                   
Michael Langner (Freiburg (CH) / Luxemburg)


Abstract (English)
The present article aims to ask whether new developments of digital media are compatible with the latest findings in pedagogy and the psychology of learning. To begin with, some basics of general learning and especially language learning will be dealt with, followed by some remarks about the overwhelming presence of digital media. The advantages and disadvantages of e-learning as well as some results of research on nerds will then be reflected upon. Finally, some perspectives for the future will be shown.
Key words: e-learning, language learning, digital media, psychology, pedagogy


Abstract (Deutsch)
Im folgenden Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit neueste Entwicklungen im Bereich des medial gestützten Lernens mit Erkenntnissen aus Lernpsychologie und Pädagogik kompatibel sind. Dazu wird zunächst auf einige grundlegende Aussagen zum Lernen und Sprachenlernen eingegangen, danach kurz über die Omnipräsenz der digitalen Medien gesprochen, dann über die Möglichkeiten und Grenzen des E-Learnings und über einige Untersuchungen zur sogenannten Nintendo-Generation reflektiert werden, um dann im Abschlussteil einige Perspektiven aufzuzeigen.
Stichwörter: E-Learning, Sprachenlernen, digitale Medien,  Lernpsychologie, Padagogik



1   Lernen: Ergebnisse aus Lernpsychologie und Gehirnforschung

In der fremdsprachendidaktischen Diskussion findet man bis heute immer noch die Formulierung: „Digitale Medien sind die Einlösung des konstruktivistischen Ansatzes!“ Es ist zwar nicht mehr möglich den Urheber dieses Satzes herauszufinden, aber man kann wohl konstatieren, dass dies ein weiteres Beispiel für die Euphorie ist, die seit Ende der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Bezug auf die damals „neuen“ Medien genannten technischen Innovationen immer noch nachklingt (z.B. Rüschoff / Wolff 1999).

Aber fragen wir uns doch erst einmal, was Lernen eigentlich ist. Dazu soll einerseits auf Ergebnisse der neueren Gehirnforschung, andererseits auf Aussagen des Konstruktivismus verwiesen werden.
Lernen kann wie folgt definiert werden[1]:Obwohl sogar Spezialisten Schwierigkeiten mit einer genauen Definition des Begriffs Lernen haben, würden die meisten sicherlich zustimmen, dass es sich dabei um einen Veränderungsprozess handelt, der als Ergebnis individueller Erfahrung auftritt. (Mazur 2004: 12)
Lernen (ist) zunächst ein beobachtbares Verhalten bzw. eine mehr oder weniger dauerhafte Veränderung von Verhaltensbereitschaft und Verhaltenspotenzialen (…). In kognitiver Sicht geht es dabei um den Aufbau innerer Strukturen und mentaler Repräsentationen (…). (Gasser 2010: 20)
In den verschiedenen Zitaten wird deutlich, wie komplex Lernen eigentlich ist, und wie wenig das schulische Lernen häufig dieser Definition entspricht. Lernen ist also weder das flüchtige Ansehen von Wortschatzlisten noch das Zusammenstellen irgendwelcher webbasierter Informationen in einem Text und schon gar nicht das stupide Abarbeiten irgendwelcher computerbasierten grammatischen Drillübungen.

Aus den Ergebnissen der neueren Gehirnforschung können hier fünf zentrale Aussagen festgehalten werden:
Lernen  - neuropsychologisch betrachtet - bedeutet ganz generell:
  • die Neubildung und die Vergrößerung von Synapsen,
  • die Festigung bestehender Bahnen,
  • das Wiederholen von Gelerntem und der Einsatz der verschiedenen Gedächtnisarten,
  • die Verknüpfung von Neuem mit schon Gewusstem   und
  • die Notwendigkeiten von Motivation und Emotionen.

Wir wissen heute zwar, dass die Anzahl der Synapsen um das dritte Lebensjahr am größten ist und anschließend beständig sinkt; wir wissen aber auch, dass dieser Abbau ganz stark durch unser Lernverhalten beeinflusst werden kann. Und relativ neu ist die Erkenntnis, dass bei intensiven Lernprozessen tatsächlich neue Synapsen gebildet werden und sich die Größe der bestehenden Synapsen deutlich verändert. Somit steigt die Oberfläche, auf der sich die chemischen Prozesse des Lernens abspielen.

Für die bestehende „Verdrahtung“ des Gehirns, also das Netzwerk, gelten ähnliche Prozesse. So haben wir in frühen Jahren eine sehr große Dichte des Netzwerks, die dann im Zuge der Lernprozesse differenziert wird. Häufig genutzte Bahnen werden verstärkt und dadurch permanent gemacht. Ein extremes Beispiel ist die frühe Fixierung des Phonembestands der Muttersprache, die zwischen dem Ende des ersten und dem Abschluss des zweiten Lebensjahrs abgeschlossen wird.

Eine zentrale Rolle spielen bei den Lernprozessen auch die verschiedenen Gedächtnisarten. Die drei zentralen Instanzen sind (Gluck et al. 2010: 174ff., Croisile 2011: 81ff.):
  • das sensorische Register (früher Ultra-Kurzzeitgedächtnis genannt),
  • das Arbeitsgedächtnis (oft auch als Kurzzeitgedächtnis bezeichnet)   und
  • das Langzeitgedächtnis, der dauerhafte Speicher.
Das sogenannte sensorische Register bezeichnet eine Erinnerungsspur von wenigen Sekunden, die mit dem jeweiligen Sinneskanal verknüpft ist. Die Sinneskanäle sind die einzige Verbindung „nach draußen“ für das Gehirn.

Das Arbeitsgedächtnis spielt für Lernprozesse eine nicht zu überschätzende Rolle, werden in ihm doch die neuen Informationen (aus dem sensorischen Register) mit den schon vorhandenen Informationen aus dem Langzeitgedächtnis verknüpft und dann wieder zurückgespeichert. Jede „Erinnerung“ – also ein Einspeisen bestehender Informationen ins Arbeitsgedächtnis – bedeutet somit gleichzeitig eine „Bearbeitung“ dieser Informationen. Das Arbeitsgedächtnis ist inzwischen sehr gut untersucht und selbst schon physiologisch verortet (Regionen im frontalen Kortex) und hat einen komplexen Aufbau (Baddeley[A1]  2000: 421). Es kann einerseits unterschiedliche Aufgaben bearbeiten, sofern sie unterschiedliche Modalitäten betreffen – dies ist dann jedoch noch kein Multitasking (vgl. auch Kap. 2). Ein Grundproblem des Arbeitsgedächtnisses ist seine Beschränktheit: So können wir im besten Falle bis zwischen 5 und  9 Informationen gleichzeitig behalten, z.B., uns eine längere Telefonnummer merken. Bei größeren Informationsmengen greifen wir daher zu Strategien und bilden sogenannte Chunks, also Gruppierungen von Informationen, damit wir nicht an die Grenzen des Arbeitsgedächtnisses stoßen.

In einem komplexen Prozess, in dem der Hippocampus und der nächtliche Tiefschlaf zentrale Rollen spielen, werden dann die bearbeiteten Informationen ins Langzeitgedächtnis übertragen (Spitzer 2002: 123f.).

In einer anschaulichen Metapher wird die Funktionsweise der Gedächtnisarten mit einem Chefbüro und zwei vorgeschalteten Sekretariaten verglichen, in denen jeweils der größte Teil der eintreffenden Informationen als unwichtig gelöscht wird. Nur ein minimaler Bruchteil hat überhaupt die Chance, ins Langzeitgedächtnis zu gelangen. Die Grundfrage für alle Lernprozesse ist daher die Frage: Wie müssen Informationen beschaffen sein, damit sie durch den doppelten Filter des sensorischen Registers und des Arbeitsgedächtnisses ins „Chefbüro“ zur Ablage gelangen können? Hier spielen die Motivation, die beteiligten Emotionen, die Wiederholungsrate und die sogenannte Verarbeitungstiefe - neben der Beteiligung mehrerer Sinne - eine spezifische Rolle.

Aus der Perspektive des (pädagogischen) Konstruktivismus ist festzuhalten:
  • Authentisches Material ermöglicht realitätsbezogenes Lernen;
  • Reichhaltige Lernumgebungen sind die Voraussetzung für ein Lernen durch Tun unter der Beteiligung möglichst mehrerer Sinne, also Lernen durch Experiment und Erfahrung;
  • Orientierung auf Projektlernen bedeutet, dass Produkte als Lernergebnisse im Vordergrund stehen,  und 
  • kooperatives Lernen bedeutet den Einbezug des sozialen Lernens, welches in spezifischen Bereichen als besonders wirksam gilt.



2   Die Omnipräsenz digitaler Medien – der Mythos Multitasking

Wenn wir uns heutzutage im Alltag umsehen, so sehen wir zunehmend Menschen, die MP3-Player benutzen, ebenso Mobiltelefone (die Smartphones von heute sind eigentlich Kleincomputer, mit denen man auch telefonieren kann), die auf den Knien ein Notebook (Laptop, Netbook, Webbook) oder einen e-Reader halten oder auch einen Tablet-Computer verwenden. Und auch Lernsituationen von Schülern sind häufig dadurch gekennzeichnet, dass neben einem irgendwie gearteten Lernprozess Musik gehört wird, das Mobiltelefon zum Simsen bereit liegt, die E-Mails regelmäßig gecheckt werden und auch noch – möglichst in verschiedenen - sozialen Netzwerken Präsenz markiert wird. Das unausgesprochene Statement, das diesem Verhalten unterliegt, ist: Wir beherrschen das Multitasking – können verschiedene Dinge gleichzeitig erledigen!

Was geschieht aber in solchen Situationen mit den begrenzten Speicherkapazitäten unseres Arbeitsgedächtnisses? Ein Ansatz zur Analyse ist die sogenannte Cognitive Load Theory, nach der davon ausgegangen wird, dass Lernen prinzipiell mit kognitiver Belastung einhergeht, dass es aber unterschiedliche Formen der Belastung gibt. Die Frage hier ist also: Wie hoch ist die extrinsische Belastung (durch die Gestaltung des Lernmaterials), und stört sie die eigentlichen Lernprozesse? Und wie viel der kognitiven „Energie“ wird dann noch für die notwendige intrinsische und die lernbezogene Belastung mobilisiert? Wenn wir wissen, dass das Erreichen einer gewissen Verarbeitungstiefe nur dann geschehen kann, wenn wir uns konzentrieren, so können wir vermuten, dass in diesen Szenarios keine nachhaltigen Lernprozesse ablaufen werden.

Aber auch die Zunahme von Multitasking-Situationen an den Arbeitsplätzen ist problematisch. Alle Ergebnisse der Gehirnforschung und der Lernpsychologie weisen darauf hin, dass unser Gehirn – egal ob weiblich oder männlich – für Multitasking nicht geeignet ist. Auch die scheinbare Gleichzeitigkeit verschiedener Arbeitsprozesse entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine mehr oder weniger schnelle lineare Abfolge von Einzelaufgaben. Und das Prekäre daran ist, dass wir keinem dieser Prozesse die notwendige Aufmerksamkeit schenken. Dabei verstehen wir unter Aufmerksamkeit Folgendes:

Man spricht von Aufmerksamkeit im Sinne von Vigilanz und meint einen quantitativ angebbaren Zustand des Organismus, der von hellwach bis (im Extremfall) komatös reicht. Im Sinne von Vigilanz ist Aufmerksamkeit eine eindimensionale Variable.

Von der allgemeinen Vigilanzerhöhung (engl.: alerting) ist die selektive Aufmerksamkeit (engl.: orienting) zu unterscheiden. Diese Funktion hat man früher gerne mit einem Scheinwerfer verglichen, der im „Feld des Bewusstseins“ bestimmte Dinge heller macht. (Spitzer 2002: 141)

Oder:

Aufmerksamkeit ist die Zuweisung von (beschränkten) Bewusstseinsressourcen auf Bewusstseinsinhalte, beispielsweise auf Wahrnehmungen der Umwelt oder des eigenen Verhaltens und Handelns, sowie Gedanken und Gefühle.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Aufmerksamkeit, 25.01.2012)

Zum Multitasking können wir Folgendes festhalten:
  • Die gleichzeitige Mehrfachbelastung macht das Gehirn langsamer. Unsere Gehirnleistung sinkt beim Versuch der gleichzeitigen guten Erfüllung zweier Aufgaben um bis zu 40 %.
  • Außerdem umgehen wir unser zerebrales Belohnungssystem, wir schütten keine Belohnungshormone (z.B. Dopamin) aus und erleben keine Lust auf Neues.
  • Und wir kommen mit Sicherheit nicht in den Flow – in das völlige Aufgehen in einer Tätigkeit.


Auf diesem Hintergrund nicht überraschend ist Pöppels Einschätzung:
Multitasking geht nicht. Wir glauben zwar, mehrere Dinge parallel bearbeiten zu können. Was aber tatsächlich passiert, ist, dass wir alles nacheinander erledigen. D.h. unser Hirn richtet seine Aufmerksamkeit erst auf einen Vorgang, wechselt dann schnell zum nächsten und wieder zurück. Insofern ist Multitasking die Fähigkeit, schnell zwischen einzelnen Tätigkeiten wechseln zu können. (Pöppel 2008)

3   E-Learning: Chancen und Grenzen

Noch vor wenigen Jahren benutzten wir den Begriff Medien im Plural, auch wenn es sich um digitale Medien handelte: Der Computer war ein Medium neben anderen, wie z.B. das Telefon, Musikgeräte oder auch Kameras. Heute hat schon ein Smartphone mehr Leistungsfähigkeit als vor 20 Jahren ein PC. Und zusätzlich übernimmt es multiple Funktionen: Ein und dasselbe Gerät ist Kamera, Internet-Browser, Musik-Player, E-Mail-Sender und -Empfänger, und ganz nebenbei kann man damit auch noch telefonieren. Und die Speichermöglichkeiten von 16 oder sogar 32 GB lassen viel Spielraum (im wahrsten Sinne des Wortes).

Aber was wissen wir eigentlich über die Kombination verschiedener Medien (also die eigentliche Multimedialität, z.B. Buch und CD-ROM), die Kombination verschiedener Codes (Multicodalität bedeutet die gleichzeitige Benutzung unterschiedlicher Zeichensysteme: z.B. Bild und Text) oder die Kombination verschiedener Modalitäten (Multimodalität bedeutet die gleichzeitige Verwendung verschiedener Sinneskanäle, also z.B. Hören und Sehen[A2] ). Was wurde z.B. aus den euphorisch begrüßten Hypertexten, als man merkte, dass diese in einem komplett anderen Lesen mit neuen Strategien resultierten? Leider gibt es in diesem Bereich nur vereinzelt Forschung, aber die wenigen Ergebnisse zeigen deutlich, dass bei der Kombination von Medien die Gefahr der sogenannten kognitiven Überlast wächst. Sie zeigen aber auch, dass durch eine durchdachte Kombination von Audiomaterial und Bildern die Betrachtungsdauer von Bildern verlängert wird und u.U. eine stärkere Auseinandersetzung mit den Inhalten geschieht (Hasebrook 1995).

Im Prinzip eröffnen sich hier für das Lernen - auch für das Sprachenlernen - ungeahnte Möglichkeiten. Wir haben heute Zugriff auf authentische Dokumente, wie noch nie zuvor. Nicht nur Textdokumente, sondern Audio- und zunehmend auch Videodokumente von außergewöhnlicher Qualität befinden sich im Internet. Fast alle Rundfunkstationen – und zunehmend auch die Fernsehsender – stellen einen Teil ihrer Sendungen zumindest eine Zeit lang ins Internet (Podcasts, Vidcasts); viele interessante Sendungen findet man auch auf YouTube. Diese digitalen Medien weisen neben ihrer hohen akustischen Qualität eine sehr leichte Zugänglichkeit auf. Für manche Sendungen im Internet gibt es druckbare Zusatzmaterialien (Skripte). Und zunehmend finden sich auch bei den sogenannten Kultursendern Podcasts zum Lernen[2].

Aber auch in der Projektarbeit, die innerhalb des konstruktivistischen Lernansatzes sehr wichtig ist, können heute leicht eigene Podcasts produziert und veröffentlicht werden. Es gibt eine Reihe didaktischer Plattformen, die es im schulischen Kontext meist kostenlos und sehr benutzerfreundlich erlauben, solche Produkte zugänglich zu machen. Die Motivation, solche realitätsbezogenen Lernprojekte gut zu realisieren – für den Sprachunterricht heißt das, sie auch sprachlich korrekt zu gestalten – ist im Allgemeinen hoch. Die Programme für die Produktion sind kostenlos im Internet verfügbar, und inzwischen gibt es auch sogenannte Mini-Anwendungen (applets) für Smartphones, um an fast allen denkbaren Orten Aufnahmen machen zu können. Und das sogenannte Cloud-Computing erlaubt das sofortige Hochladen der entsprechenden Dateien.

Damit ist indirekt ein Begriff gefallen, der in letzter Zeit recht häufig verwendet wird: Edu-Apps oder Web 2.0-Tools für Bildungszwecke (Strasser 2011: 139ff). Während bis vor kurzem Lernplattformen und Web 2.0-Applikationen nebeneinander existierten, kommt es in letzter Zeit zu einer deutlichen Integration. Solche Tools können auf sehr einfache Art und Weise in die gängigen Lernplattformen eingebaut werden. Strasser spricht von der Drei-Klick-Methode (Strasser, Kulhanek-Wehlend & Knecht 2012) und meint damit, dass wir von einer Integration jeweils nur drei Mausklicks entfernt sind.

Eines aber ist sehr deutlich geworden: In den meisten Lernszenarien spielt das reine E-Learning keine Rolle mehr, es wurde abgelöst durch hybride Lernformen (blended learning environments (BLE)). Hierbei werden Präsenzphasen mit computerbasiertem individuellem Lernen verknüpft. Verknüpfung steht hier jedoch eigentlich für Integration, denn es handelt sich nicht einfach um einen additiven Prozess. Es bedarf es dafür einer guten Reflexion und klarer Entscheidungen dahingehend, welche Teilbereiche für welche der beiden Lernformen geeignet sind. Im Sprachenlernen kann allgemein die Tendenz formuliert werden: Reine Trainingsangebote können aus dem Präsenzunterricht ausgelagert werden, während z.B. kommunikative Übungsformen im Präsenzlernen besser bearbeitet werden können.

Wir selbst plädieren hier sogar für Open Learning Environments (OLE), also die Nutzung aller Ressourcen, die zur Erreichung von Lernziele sinnvoll sind: Präsenzunterricht, Tandemlernen, computerbasiertes individuelles Training sowie Audiomaterialien zum individuellen oder kleingruppenorientiertem Hörtraining.

4   Die Nintendo-Generation oder les enfants ROI

Die wenigen Studien, die bisher zu dem Bereich der digital natives existieren, geben zum Nachdenken Anlass.

Einerseits hatten wir erwartet, dass die jüngere Generation durch ihre Gewöhnung an den technologisch bestimmten Alltag den digitalen Medien gegenüber weniger Berührungsängste habe. Es hieß ja auch immer, dass die Älteren, die ja naturgemäß mit der aktuellen Technik weniger vertraut sind, die Jüngeren gezielt einsetzen sollten, damit wir problemlos - z.B. im Unterricht - Medien einsetzen können. Dies hat zu Zeiten des Videorekorders auch meist funktioniert. Die Situation an Hochschulen zeigt heute jedoch häufig Anderes: Die Bereitschaft, mit Medien für Lernprozesse arbeiten zu wollen, ist oft denkbar gering. Die vielfältigen Möglichkeiten, die die Technologie bietet – man denke beispielsweise an Lernforen auf Lernplattformen – werden bisweilen sogar in expliziten Seminaren zum Thema Digitale Medien und Sprachenlernen kaum genutzt.

Auch auf Nachfrage an verschiedenen Bildungsinstitutionen (sowohl Universitäten als auch Schulen auf Gymnasialniveau) zeigen, dass ein eklatanter Widerspruch besteht zwischen dem Besitz und dementsprechend der alltäglichen Nutzung von Smartphones einerseits und ihrem Einsatz in Lernszenarien andererseits. Sicher wird das Internet bisweilen für ein unbekanntes Wort in einer Fremdsprache konsultiert, genutzt werden jedoch fast nur die jeweiligen Gratisapplikationen (z.B. Leo, Babylon). Gute - aber kostenpflichtige, wenn auch erschwingliche - Applikationen sind praktisch unbekannt. Und für die Erlernung der jeweiligen Wörter bedarf es dann weiterer Aktivitäten (Kap. 5).

Auch wenn dies sehr kulturpessimistisch klingt, lassen sich die wesentlichen, bisher durchgeführten Studien folgendermaßen zusammenfassen (Sarma et al. 2009):
  • Geschätzt werden von dieser Generation Angebote, die man neudeutsch als „quick and dirty“ – also schnell und einfach, ohne komplexere Funktionen – bezeichnen kann;
  • Das Lernen soll möglichst ohne großen Aufwand geschehen;
  • Wir leben in einer sogenannten „Spaßgesellschaft“ – also soll auch das Lernen Spaß machen. Dabei wird aber unterschlagen, dass wir als Heranwachsende und Erwachsene nicht mehr so wie Kinder lernen, und bei Kindern haben wir auch nur den oberflächlichen Eindruck des leichten, spielerischen Lernens. Tatsächlich ist auch das kindliche Lernen anstrengend (warum sonst schlafen Kinder so viel?);
  • Multitasking ist Alltag, auch wenn es eigentlich nicht funktioniert;
  • Die Bereitschaft, Dinge aus dem Alltag (z.B. Smartphones, E-Mail) zum Lernen einzusetzen, ist sehr gering. Diese Medien sind mehr oder weniger für die Freizeit vorgesehen und drängen sich zum Lernen nicht auf;
  • Wir leben in einer Informationsgesellschaft, keineswegs in einer Wissensgesellschaft.
Sicher gilt, was bereits zu Beginn dieses Abschnitts gesagt wurde: Wir haben - nicht zuletzt durch das Internet - heutzutage phantastische Recherche- und Lernmöglichkeiten. Aber auch heute gilt, Wissen entsteht erst durch verarbeitete Information! Und dieser entscheidende Schritt wird bemerkenswert selten gemacht.

5   Perspektiven

Abschließend soll hier noch etwas differenzierter auf die Vor- und Nachteile eingegangen werden, die die digitalen Medien für das Lernen - und spezifisch für das Sprachenlernen - mit sich bringen. Beginnen wollen wir mit den Nachteilen, die berücksichtigt werden müssen, damit die Vorteile entsprechend zum Tragen kommen. Außerdem soll dadurch auch klargestellt werden, dass der Autor dieser Zeilen nicht in die Reihe der Kulturkritiker gehört, die jegliche Veränderung sabotieren wollen.

Digitale Medien sind immer nur Ergänzungen. Bisher werden der visuelle Kanal und der auditorische Kanal eingesetzt. Der taktile Kanal hingegen wird nur auf äußerst unbefriedigende Art und Weise über Tastatur und Maus eingesetzt. Dies entspricht keineswegs der Arbeitsweise, die für Lernprozesse sonst für diesen Kanal typisch ist. Und der olfaktorische und der gustatorische Kanal – der Vollständigkeit halber, obwohl für das Lernen allgemein nicht zentral – fehlen komplett.
Wenn man von den Grundfertigkeiten des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) ausgeht, kann man festhalten, dass der Einsatz des Computers nur für gewisse Fertigkeiten sinnvoll ist.

Für das Lesen beispielsweise gilt bis heute, dass Lesen am Bildschirm – auch bei den qualitativ besten Bildschirmen – deutlich langsamer geht, als auf Papier – und zwar um bis zu 10 % (Nielsen 2010).

Für die Teilnahme an Gesprächen ist der Computer mit Sicherheit kein ideales Medium. Bei dieser Fertigkeit geht es ja um gesamthaftes Kommunizieren, was über das Medium Computer nur sehr eingeschränkt erfolgen kann.

Außerdem wissen wir, dass elektronische Wörterbücher - völlig unabhängig von ihrer Qualität - kaum dem Wortschatzerwerb dienen. Durch die hohe Geschwindigkeit bei der Suche nach der richtigen Übersetzung und die Leichtigkeit des Zugangs zu diesem Medium  ist es zweitrangig, wie häufig dasselbe Wort Mal nachgeschlagen wird; gehäufte Nachschlageprozesse werden im Allgemeinen nicht als Hindernis angesehen. Kaum ein Lernender würde dies mit einem in Papierform publizierten Wörterbuch tun. Allein die gewisse Umständlichkeit des Gebrauchs eines umfangreichen traditionellen Wörterbuchs bewirkt einen ersten Schritt in Richtung Verarbeitungstiefe. Und die weiteren Schritte, wie das „Umwälzen“ des Wortschatzes, also die mehrfache Verwendung des zu lernenden Wortes in verschiedenen Sätzen und Situationen, die Verknüpfung mit bereits bekannten, ähnlichen Wörtern oder entsprechenden Antonymen bewirken die für erfolgreiches Lernen notwendige Verarbeitungstiefe. Die digitalen Medien nehmen dem Lernenden diese Aktivität somit nicht ab.

Der Computer verleitet außerdem zu einem individualisierten, ja – extrem formuliert bisweilen fast autistischen – Lernen. Für das im konstruktivistischen Ansatz so zentrale soziale Lernen bietet er meist keine Möglichkeiten. Dennoch muss festgestellt werden, dass dies nur zum Teil auf das Medium allein zurückzuführen ist: Mögliche Formen des sozialen Lernens werden von den Software-Produzenten gar nicht angedacht: Meist wird Autonomie mit individuellem, isoliertem Lernen verwechselt (z.B. Small / Vorgan 2009. Interessant ist weiterhin, dass in den neueren Publikationen zum Bereich Autonomie und Fremdsprachenlernen eigenartigerweise weder auf den Medienaspekt noch auf das soziale Lernen explizit eingegangen wird (z.B. Tassinari 2010 oder Schmenk 2008). Und auch Nandorf (2004) geht in ihrem Buch mit dem einschlägigen Titel Selbstlernen mit Sprachlernsoftware mit keinem Wort auf die Problematik des sozialen Lernens ein. Dies ist vor dem Hintergrund der inzwischen zweiten Renaissance von Wygotsky – Stichwort Soziokonstruktivismus – unverständlich (Vygotsky 1978).
Doch nun zu den positiven Perspektiven. Die digitalen Medien erlauben eine einfache Wiederholung, ohne - wie Lehrer - ungeduldig zu werden. Sicher bedarf es bisweilen auch eines gewissen Drucks, damit Fortschritte erzielt werden, aber die einfache Wiederholbarkeit erlaubt es natürlich auch schwächeren Lernern, die nötigen Durchläufe zu erzielen.

Die Möglichkeiten des Herunterladens entsprechender Dokumente (Texte, Präsentationen, Audio- und Video-Dateien) und ihr Abspeichern unterstützen die Trainingsmöglichkeiten. Es bleibt aber die Gefahr, dass es beim Herunterladen bleibt und keine weiteren Schritte hin zum eigentlichen Lernen unternommen werden.

Die Zugänglichkeit digitaler Audio- und Videodokumente ist im Allgemeinen recht hoch, und das Ansteuern spezifischer Stellen im Dokument ist im Vergleich zu früherem Tonband- und Videokassetten-Material sehr einfach. Somit sind solche Dokumente auch zugänglicher im Unterricht einzusetzen. Ebenfalls hervorzuheben ist die hohe akustische und optische Qualität vieler authentischer Materialien - besonders im Hinblick auf die Podcasts, die die Rundfunksender zur Verfügung stellen.

Als komplementäres Zusatzmaterial können diese Dokumente leicht in eine reichhaltige Lernumgebung integriert werden. Entgegen der bisherigen Euphorie sind sie selbst noch nicht unbedingt die reichhaltige Lernumgebung. Hier spielen Lernplattformen eine hervorragende Rolle: Verschiedenste Lernmöglichkeiten sind dort bereits realisiert und können ohne spezifische Computerkenntnisse genutzt werden. Und bereits vermerkt, können hier auch auf einfache Art und Weise Edu-Apps integriert werden (vgl. die Drei-Klick-Methode; Kap. 3).

Während Plattformen eher die Nutzung digitaler Medien in einem gewissen abgeschlossenen Raum darstellen - ihre Zugänglichkeit ist normalerweise auf einen definierten Nutzerkreis beschränkt - gibt es selbstverständlich die Nutzung auf dem Weg nach draußen: Produkte aus Lernprozessen können ins Internet gestellt und somit allgemein zugänglich gemacht werden. Dadurch erhalten beispielsweise Projektarbeiten eine besondere Form von Realitätsbezug und Authentizität.

6   Fazit

Insgesamt können wir hier festhalten, dass wir heutzutage im Rahmen unserer Informationsgesellschaft mit den digitalen Medien Möglichkeiten haben, die vor 30 Jahren fast undenkbar schienen. Die technologische Entwicklung hat uns Geräte beschert, mit denen wir fast jede Information schnell abrufen und abspeichern können. Die Qualität - inzwischen auch schon von Videodokumenten - ist im Allgemeinen sehr hoch.

Dennoch muss einschränkend festgestellt werden, dass auch mit diesem technologischen Fortschritt Lehrer und Lehrerinnen nicht überflüssig werden. Im Rahmen von hybriden Lernformen werden vielmehr die Vorteile aller existierenden Lernformen (z.B. Präsenzlernen, computergestütztes Lernen) genutzt. 

Skepsis ist hingegen angebracht, wenn man an die Kombinationen von verschiedenen Codes, Modalitäten und Medien denkt: Nicht alles, was möglich ist, ist didaktisch und lernpsychologisch auch sinnvoll. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass bestimmte Kombinationen für das Lernen hinderlich sein können (Hasebrook 1995).

Die starke Tendenz unserer Gesellschaft zu Lern- und Arbeitssituationen, die das Multitasking einschließen, geht mit Sicherheit in die falsche Richtung: Unser Gehirn kann sich nicht an dieses Aufsplitten der Aufmerksamkeit auf verschiedene Prozesse anpassen. Wir sollten uns rechtzeitig überlegen, wohin das Lernen in Zukunft steuern soll.

Schließlich darf nicht vergessen werden: Alle heute existierenden, geradezu fantastischen technischen Möglichkeiten dürfen keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass erst intensives Lernen - die Auseinandersetzung mit dem Lernstoff und die konzentrierte Aufmerksamkeit - notwendig sind, damit aus unserer bisherigen Informationsgesellschaft zumindest in Ansätzen eine Wissensgesellschaft werden kann.


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[1] Vgl. hierzu auch den Artikel „Lernen“ in Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Lernen (Zugriff 28.8.2012)
[2] So hat z.B. Radio SWR einen kompletten Chinesischkurs mit 70 Folgen online.