Interkulturelles
Lernen anhand von Migrantenliteratur
Yun-Young
Choi (Seoul, Korea)
Abstract (English)
In the framework of German as a foreign
language, the present paper discusses practical advantages of immigrant
literature in terms of classroom texts in university language teaching.
Immigrant literature offers foreign students not only texts which provide input
at an appropriate language level but also a reflection on new critical
perspectives. Due to its high correspondence to reality and the intellectual
inspiration it generally provides, immigrant literature proves to be easily understandable
and responds to students’ intellectual expectations. Another linguistic advantage
of immigrant literature is that authors express themselves more overtly and
more sensitively towards linguistic differences, mixtures and neologisms. This diction
reflects their intercultural and interlingual experiences. Last but not least, the
fact that students and immigrant authors share a foreign standpoint incites
students to rethink ‘the Other’ positively and to formulate it in German.
Key words: Intercultural
learning, immigrant literature, interlingual experiences
Abstract
(Deutsch)
In dem
vorliegenden Beitrag werden praktische Vorteile der Migrantenliteratur als
Unterrichtstext im Hochschulbereich diskutiert. Für ausländische Studenten
bietet die Migrantenliteratur eine geeignete Sprache und neue, kritische
Perspektiven an. Sie erweist sich zunächst als sprachlich nicht sonderlich
anspruchsvoll, ist leicht verständlich und befriedigt aufgrund der hohen
aktuellen Realitätsbezüge und der intellektuellen Anregungen die Erwartungen
der Studenten. Ihr weiterer sprachlicher Vorzug liegt darin, dass die Autoren
der Migrantenliteratur sich offener und sensibler gegenüber sprachlichen
Differenzen, Vermischungen und Neologismen verhalten, was ihre interkulturellen
und interlingualen Erfahrungen widerspiegelt. Darüber hinaus teilen die
Studierenden und die Autoren einen fremden Standpunkt. Dies regt die Lernenden
an, das Fremde selbst positiv neu zu betrachten und in deutscher Sprache zu
formulieren.
Stichwörter:
Interkulturelles Lernen, Migrantenliteratur, interlinguale Erfahrungen
1 Einleitung
Der vorliegende Aufsatz nähert sich der Thematik des
Fremdheitsdiskurses im Zusammenhang mit dem interkulturellen Lernen unter einer
besonderen Perspektive. Aufgrund von Erfahrungen an einer koreanischen
Universität werden die Vorteile des Einsatzes von Migrantenliteratur im
Fremdsprachenunterricht unter vier Gesichtspunkten diskutiert. Zurzeit
schreiben und veröffentlichen in Deutschland mehr als 400 Autoren, die nicht
aus deutschsprachigen Ländern stammen, sich aber für die deutsche Sprache als
literarisches Ausdrucksmittel entschieden haben. Im Verhältnis zur
Gastarbeiterliteratur zeigen ihre Werke eine breitere Palette an Schreibstilen
und Themen. Einige Autoren wie Özdamar, Zaimoglu und Tawada haben bereits in
zeitgenössische Literaturgeschichten - wie in Barners Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart
(Barner 1994: 997f) - Eingang gefunden.
Wenn man in Bezug auf Interkulturalität von dem Verstehen eines literarischen
Textes spricht, denkt man in den meisten Fällen entweder an die allgemeine
hermeneutische Verstehenssproblematik des Eigenen und Fremden, wie sie sich von
Schleiermacher (1809: 10) herleitet, oder an Verständigung und
Missverständnisse in der interkulturellen Kommunikation. In beiden Fällen wird
die Fremdheit aus einer negativen Perspektive beleuchtet und im Prozess der
Horizontverschmelzung oder nach einem erfolgreichen Kommunikationsvorgang
beseitigt. In dem vorliegenden Beitrag werden - im Gegensatz zu solchen
Ansätzen - Fälle diskutiert, in denen durch Hinzuziehung eines weiteren Fremden
das interkulturelle Verstehen des Lesers erleichtert wird. Das heißt, es werden
eher die Gemeinsamkeiten als die Differenzen des Fremden betont, jedoch weniger
aufgrund der kulturinhaltlichen Gemeinsamkeiten als aufgrund der Gemeinsamkeiten
der fremden Standpunkte.
2 Sympathie
oder Empathie für den fremden Blick
Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, zunächst die Definition von
Interkulturalität zu erläutern. Der Begriff Interkulturalität
bezeichnet nach Yousefi
eine Theorie und Praxis, die sich mit dem
historischen und gegenwärtigen Verhältnis aller Kulturen und der Menschen als
ihrer Träger auf der Grundlage ihrer völligen Gleichwertigkeit beschäftigt. Sie
ist eine wissenschaftliche Disziplin, sofern sie diese Theorie und Praxis methodisch
untersucht. (Yousefi & Braun 2010: 124)
Wie man anhand dieser Definition ersehen kann, basiert das Modell der
Interkulturalität auf der Gleichwertigkeit verschiedener Kulturen, und das
Verhältnis zwischen den Kulturen ist besser als ein Verhältnis zwischen dem
Eigenen und dem Anderen als zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu bezeichnen.
Wenn man jedoch die Interkulturalitätstheorie auf den Fremdsprachenunterricht
anwendet, ist es adäquater, das Verhältnis zwischen den Kulturen als ein Verhältnis
zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu betrachten. Nicht nur weil der
Lehrstoff - die fremde Sprache und fremde Zielkultur - für die Lernenden etwas
Unbekanntes und Unvertrautes ist, sondern auch, weil er
eher normativ wirkt. Die Leser sollen aufgrund eigener Vorkenntnisse und
Erfahrungen in einem ständigen Dialog die Texte und Kontexte der fremden Vorlagen
verstehen und sich so das Fremde aneignen. Der Fremdheitsdiskurs im Kulturverstehen
wird in der Realität nicht immer in einem Verhältnis der Gleichwertigkeit
entwickelt. Es handelt sich vielmehr um ein asymmetrisches Verhältnis zwischen
den Kulturen.
Wenn man im Ausland für den Deutschunterricht Migrantenliteratur als
Lehrstoff verwendet, kann man eine interessante Komplexität beobachten, die das
dualistisch konzipierte Verstehensmodell des Eigenen und des Fremden erweitert
und zuspitzt. Die Aspekte der Interkulturalität in der Migrantenliteratur sind
unterschiedlich: Oft werden Austauschprozesse zwischen Kulturen oder
interkulturelle Konflikte und Missverständnisse wie critical incidents
bereits als Inhalt und Thema des Textes behandelt. Aus diesem Grund wird
Migrantenliteratur bisweilen als interkulturelle Literatur bezeichnet. Die Art
und Weise der textualen Fremdheit unterscheidet sich dabei: Die Autoren
debütieren in vielen Fällen mit stark autobiographisch geprägten Schriften,
etwa mit Erinnerungen an Kindheit und Jugend in ihrer Heimat, die sie verlassen
haben. Das gilt zum Beispiel für Das
Leben ist eine Karawanserei von Emine Sevgi Özdamar, Eine Hand voller Sterne von Rafik Schami oder Niederungen von Herta Müller. Die fremden Kulturen werden dem
deutschsprachigen Leser unter den Aspekten der Selbstbehauptung der Autoren und
des Fremdverstehens der Leser präsentiert. Obwohl eine Tendenz zur Exotisierung
nicht vollkommen zu leugnen ist, wird im Blick der Autoren die eigene
Heimatkultur in der Erinnerung in der Fremde reflektiert. Obwohl der Text den
Anschein hat, einseitig die fremde Kultur darzustellen, fungiert er als
Plattform für den Austausch der Kulturen. Ebenso oft werden die Schwierigkeiten
der Kommunikation und Prozesse der Integration oder Assimilation in der Fremde
- in diesem Fall in der deutschen Gesellschaft - dargestellt und ihr Erfolg
oder ihr Misserfolg geschildert. Dabei werden den Studierenden die deutsche
Kultur und die deutsche Gesellschaft mit anderem Inhalt, mit anderer
Fokussierung und aus anderer Perspektive vermittelt.
Man könnte vermuten, dass solche Texte aus der Sicht koreanischer
Studenten stark verfremdet erscheinen, da sie nicht nur die fremde deutsche,
sondern zudem eine fremde türkische, syrische oder rumänische Situation
behandeln. Jedoch nehmen die koreanischen Studenten im Gegenteil in diesem
komplexen Verhältnis von Verfremdungen die Texte häufig als näher - manchmal
als Thematisierungen ihrer eigenen Probleme - wahr, das heißt: Das Fremde wird
in der Wahrnehmung und im Erkennen mit Mitleid und Sympathie betrachtet. Es
geschieht häufig, dass die Leser Gemeinsamkeit mit den Autoren oder mit den
Figuren in ihrer Rolle als etwas Fremdes empfinden. Wie Lessing in seiner
Theorie über das bürgerliche Trauerspiel ausgeführt hat, ist durch die Betonung
der bürgerlichen Tugend die Gattung nicht mehr für die Aristokraten, sondern
für die Bürger als neues Publikum konzipiert (Lessing 1756: 24). Entsprechend
entsteht in unserem Fall nun durch den gleichen Standpunkt Mitleid mit dem dargestellten
Fremden. Im Unterricht empfindet man Sympathie und Solidarität. Dies erfolgt
nicht nur in kognitiver Hinsicht, sondern auch in affektiver, und der
Verständnisvorgang wird mit der Identifikation der Leser verzahnt.
Migrantenliteratur ist in diesem Sinne von der Leserperspektive her
mehr oder weniger als eine Literatur der Betroffenheit zu bezeichnen, weil die
Leser - wie die Autoren - die deutsche Gesellschaft und Kultur als etwas
Fremdes beobachten und als ausländische Leser eine selbstbewusste
Identitätsarbeit durchlaufen. Es ist interessant zu beobachten, dass
die Fremdwahrnehmung bei der Lektüre von Migrantenliteratur nicht unbedingt
vergrößert oder intensiviert wird, sondern umgekehrt, dass sie oft abgemildert
und sogar entfremdet wird.
3 Diskrepanz zwischen intellektuellem und
sprachlichem Niveau
Im Folgenden ist der praktische Nutzen der interkulturellen Literatur
für den Fremdsprachenunterricht zu erläutern und zunächst eine kurze
Beschreibung der koreanischen Lernsituation vorauszuschicken. Oft ist in der
Unterrichtssituation zu beobachten, dass die gängigen Unterrichtsmaterialien
von deutschen Verlagen trotz hoher didaktischer Standards und hoher
didaktischer Qualität nicht auf die Lernenden im Ausland zugeschnitten sind.
Dieses unvermeidbare Problem gilt ebenfalls für koreanische Lerner. Sie
beginnen zur Zeit meist erst an der Hochschule - nicht wie früher im Gymnasium
- die deutsche Sprache als zweite Fremdsprache zu erlernen. Das Problem der
Lehrwerkentwicklung für die Hochschule wird im Hinblick auf die Mittelstufe
besonders deutlich. Man geht heutzutage allgemein von der Annahme aus, dass in
der Anfangsphase - bzw. auf dem Grundstufenniveau des Fremdsprachenunterrichts
- die so genannten vier Kernkompetenzen, das Lesen, Sprechen, Hören und
Schreiben, mit gleichem Gewicht betont und gefördert werden müssen. In der
Regel werden in dieser Phase auf der Basis typischer Situationen der
Alltagskommunikation der notwendige Wortschatz und die erforderlichen
Satzstrukturen vermittelt. Für die Mittelstufe wird jedoch der Schwerpunkt der
Kernkompetenzen je nach der Lernsituation viel differenzierter, und im Fall
koreanischer Universitäten wird besonderer Nachdruck auf Lesen und Textverstehen
gelegt. Einerseits liegt dies daran, dass in einem geographisch so entfernten
Land wie Korea die Chancen für Alltagskommunikation auf höherem Niveau wenig
realistisch sind. Das heißt, man ist weniger der Lebenswelt der deutschen Sprache
ausgesetzt. Der Anteil des Dialogs nimmt im Textbuch allmählich ab und der Anteil
der Lesetexte nimmt zu. Ab der Mittelstufe kann man feststellen, dass
interessierte oder motivierte Studenten mit einer akademischen Zielsetzung
bewusst Deutsch lernen und die Sprachkenntnisse an einem hohen Leseverständnis
orientiert sind. Zudem wirkt in Korea die kulturelle Tradition immer noch in
der Weise, dass aufgrund der langen konfuzianischen Einwirkungen auf den
Fremdsprachenunterricht der Bildungsaspekt in den Vordergrund tritt. Dies ist
etwa mit der bedeutsamen humanistischen Bildungstradition Europas zu vergleichen.
Bildung umfasst nicht nur die Aufnahme kognitiven Wissens, sondern auch die
Persönlichkeitsbildung. Am besten kann man dies an der Lehre von Konfuzius
ablesen, die die Einheit von Wissen und Handeln voraussetzt und durch Bildung
nach einem ganzheitlich gebildeten Menschen strebt. Dabei spielt das Lesen von
lesenswerten, d.h. zur allgemeinen Bildung des Menschen beitragenden Texten,
eine große Rolle. Literatur nimmt, abgesehen von ihren ästhetischen Qualitäten,
immer noch eine zentrale Stellung als Lehrstoff für geistige Bildung ein.
In diesem Kontext ist es besonders schwierig, für die Mittelstufe
passende Lehrwerke zu finden oder neu zu entwickeln. Das niedrige Sprachniveau
der Schüler, die erst mit der Grundstufe abgeschlossen haben, stimmt mit ihren
intellektuellen Erwartungen an den Lehrstoff nicht überein. Früher wurden aus
diesem Grunde oft Auszüge klassischer Texte ausgewählt und in didaktisierter
Form angeboten. Die Titel der Mittelstufentexte lauten in einem in der Praxis
eingesetzten Lehrbuch namens Wege zur
Humanität der Seoul National University (2009) beispielweise wie folgt: Immanuel Kant, Faust als moderner Mensch,
Friedenspolitik in unserer Zeit, Die Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers,
Gentechnik – Hoffnung oder Bedrohung?
In dieser Situation bietet die Migrantenliteratur in Bezug auf den
Anspruch und das intellektuelle Niveau der Lernenden geeignete Inhalte und
Formen. Unter anderem ist Migrantenliteratur oft sprachlich nicht so
anspruchsvoll und relativ leicht verständlich. Trotzdem ist sie geistig
aufschlussreich und prägnant sowie gesellschaftlich aktuell. Für Hung Gurst,
einen aus Vietnam stammenden Autor, weist sein einfacher Schreibstil auf klare
und konzentrierte Gedanken hin:
Manche glauben, es sei sehr
schwer, in einer fremden Sprache zu schreiben, aber ich glaube das nicht. Das
ist nicht so schwierig. Es sei denn, wenn man sich nicht bemüht, die Dinge
einfach zu beschreiben; wenn man anfängt, kompliziert zu werden, dann wird es
schwierig. Einfach zu schreiben ist eine Kunst. Man muß sich beherrschen
können, man muß ein klares Bild haben, die verschwommenen Worte muß man
weglassen. (Gurst 1998: 233)
Freilich trifft dies besonders für die Literatur der sogenannten ersten
Migrantengeneration zu, die sich noch stark an der Kultur der Heimat orientiert
und die deutsche Sprache und Kultur erst im Erwachsenenalter als Fremdes
erlernt hat. Ihre Sprache bewegt sich in einem interkulturellen Raum. Die
fremde Beziehung und das Spannungverhältnis zur deutschen Sprache werden in den
Texten beibehalten. Die zweite Generation, die in der Fremde geboren wurde,
fühlt sich mit ihrer so genannten kulturellen Lokalidentität sprachlich und
kulturell eher den Einheimischen zugehörig und zeigt daher in Bezug auf die
Identität große Differenzen zur Elterngeneration. Für sie ist die deutsche
Sprache keine Fremdsprache, sondern Muttersprache, freilich oft mit starkem
Gruppenakzent wie bei Kanak Sprak von
Feridun Zaimoglu.
Gleichzeitig ist die Migrantenliteratur in Bezug auf den Inhalt
anspruchsvoll und erfüllt die intellektuellen Erwartungen der Studenten. Die
deutsche Gesellschaft und Kultur werden aus einer fremden Perspektive
dargestellt. Nicht nur das reichhaltige kontextuelle Wissen in der Literatur,
sondern auch die kritischen Blicke als Fremde interessieren die Studenten und
lassen sie ernsthafter lesen. In dieser Situation erweist sich die
Migrantenliteratur von einigen Schriftstellern als besonders geeignet für die Unterrichtssituation.
Ein Beispiel möge diesen Zusammenhang verdeutlichen: Die Sammlungen
kurzer Prosatexte von Wladimir Kaminer sind durch ihren Humor und Witz, ihre
leichte Stimmung, ihre Alltagssprache und ihre kritischen sozialen
Beobachtungen gekennzeichnet. Ein weiterer Vorzug liegt darin, dass die Szenen,
die Kaminer schildert, voll von Alltagsbeobachtungen sind und seine Sprache
stark umgangssprachliche Züge hat. Dabei werden Belehrung und Unterhaltung
gleichzeitig angeboten:
Anders als im meiner Heimatsprache kann man im Deutschen alle
Worte zusammensetzen, Substantive mit Adjektiven verbinden oder umgekehrt, man
kann sogar neue Verben aus Substantiven ableiten. Dabei entstehen völlig neue
Redewendungen, die aber von allen sofort verstanden werden. Angangs
experimentierte ich viel in der U-Bahn. Meine ersten Versuchskaninchen waren
die Fahrausweiskontrolleure, die sich immer wieder gerne auf einen
komplizierten Wortaustausch einließen. “Ihr Kurzstreckentarif ist nach einer
Zwanzigminutenstrecke abgelaufen”, sagten sie zum Beispiel.
“Ich habe den Langstreckentarif nicht gefunden und wollte nur
einmal kurzstrecken, habe aber die Ausstiegsgelegenheit leider verpasst”,
antwortete ich. “Die können wir für Sie organisieren,” meinten die
Kontrolleure, “steigen Sie bitte mit aus.”
Mit oder aus? Aus oder mit? Ich war begeistert von der
Flexibilität und Sensibilität dieser Sprache. (Kaminer 2004: 14f)
Die sprachlichen Eigenschaften des
Deutschen, die für ausländische Lerner besonders auffällig und schwierig
erscheinen, werden nicht nur durch die Nachbildung langer, kompliziert
konstruierter Neologismen wie „Langstreckentarif“ oder „kurzstrecken“, sondern
auch durch die Infragestellung der Vorsilben und Präpositionen augenfällig
angesprochen und in einer Situation, in der wohl eigentlich ein Bußgeld zu
erwarten steht, mit Witz thematisiert.
4 Sensibilisierung des Sprachgefühls
Berücksichtigt man die Tatsache, dass der
Deutschunterricht an koreanischen Hochschulen unter anderem als
Sprachunterricht für Erwachsene konzipiert ist, interessiert und sensibilisiert
die Migrantenliteratur die Lernenden hinsichtlich relevanter sprachlicher bzw.
sprachwissenschaftlicher Aspekte, denn die Autoren thematisieren die Sprache
selbst und machen gern Experimente mit der Sprache. Sie verhalten sich
sensibler und offener gegenüber verschiedenen Phänomenen der Sprache wie Differenzen,
Variationen, Mischungen oder Neologismen.
Hierbei sind drei Punkte als relevant zu erwähnen.
Erstens ist es interessant, dass die Lernenden als Erwachsene die Fremdsprache
bewusster, kontrastiv und kontextualisierend erwerben. Das unterscheidet ihr
Lernen von der Primäraneignung der Muttersprache, die man als Kind mimetisch
durchmacht. Die Lernenden befinden sich nun in der Situation, den bekannten,
d.h. bereits benennbaren Phänomenen der Welt gegenüberzustehen, sie aber neu zu
bezeichnen und sich in diese neue, fremde sprachliche Umgebung einzuleben. Die
Migrationsschriftsteller stellen diese Situation des Öfteren dar, was die
Lernenden als sehr vertraut empfinden, da sie gerade im Fremdsprachenunterricht
dasselbe erleben. Yoko Tawada schreibt diesbezüglich in der Erzählung Von der Muttersprache zur Sprachmutter:
In meinem ersten Jahr in Deutschland
schlief ich täglich über neun Stunden, um mich von den vielen Eindrücken zu
erholen. Jeder normale Büroalltag war für mich eine Kette rätselhafter Szenen.
Wie jede andere, die in einem Büro arbeitet, war ich umgeben von verschiedenem
Schreibzeug. Insofern wirkte meine neue Umgebung auf mich zuerst nicht so
fremd: Ein deutscher Bleistift unterschied sich kaum von einem japanischen. Er
hieß aber nicht mehr «Enpitsu», sondern «Bleistift». Das Wort «Bleistift»
machte mir den Eindruck, als hätte ich jetzt mit einem neuen Gegenstand zu tun.
Ich hatte ein leichtes Schamgefühl, wenn ich ihn mit dem neuen Namen bezeichnen
musste. (Tawada 1996:9)
Die neue sprachliche Umgebung ermüdet die
Erzählerin nicht nur, sondern stellt auch kognitiv und emotional neue Verhältnisse
zwischen Sprache und Umwelt her.
Zweitens verhalten sich die Schriftsteller
der Migrantenliteratur besonders sensibel gegenüber Sprachdifferenzen und
Sprachpluralitäten und gewinnen ihre Stärke aus interkulturellen Erfahrungen.
Die interkulturellen und interlingualen Erfahrungen werden positiv eingeschätzt
und lösen das Monopol bzw. die normativ geltenden Grenzen der Sprachstandards
auf. Sprachliche Phänomene werden oft unter vergleichenden Aspekten beobachtet
und diese Interessen teilen die Lernenden ebenfalls. Özdamar stellt diese
Situation am Anfang ihrer Erzählung Mutterzunge
dar:
In meiner Sprache heißt Zunge
Sprache. Zunge hat keine Knochen, wohin man sie dreht, dreht sie sich dorthin. Ich
saß mit meiner gedrehten Zunge in dieser Stadt Berlin. (Özdamar 1990:9)
Die Autorin eröffnet einen Zugang zu den
nicht singularen Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache und regt die Leser so zum
Nachdenken darüber an, dass die Zunge ebenfalls für die Sprache benutzt werden
kann. Wenn die Zunge einmal im Text genannt worden ist, werden weitere damit
verbundene Assoziationen und Bilder aufgerufen. Nicht nur im Türkischen,
sondern auch in vielen anderen Kulturen bezeichnet die Zunge metaphorisch die
Sprache. Die intersprachlichen sowie interkulturellen Erfahrungen lassen die
fremden Leser weiter darüber nachdenken, wie die Sprache in ihrer Muttersprache
bezeichnet wird. Die Normgrenzen und Akzeptablitätsgrenzen der Sprache werden
erweitert, und dies bedeutet für die Lernenden im Ausland eine befreiende
Erfahrung. In diesem Fall handelt es sich um das nahe Fremde im Vergleich zu
dem fernen Fremden oder mit der Formulierung von Simmel: Im Begriff des Fremden
existiert auf diese Weise immanent ein Element, das den einheitlichen Dualismus
des Nahen und Fernen durchkreuzt und in eine neue Verbindung bringt. Simmel
sagt, dass der Fremde derjenige sei, der „heute kommt und morgen bleibt“
(Simmel 1908: 509).
Besonders interessant erscheint die
Überlegung von Yoko Tawada für koreanische Leser, da sie die Unterschiede zwischen
dem Japanischen und dem Deutschen, zwischen der Zeichenschrift und dem Alphabet
thematisiert. Obwohl das Koreanische - anders als das Japanische - über ein
Alphabetsystem verfügt, gehört es wie das Japanische zu dem asiatischen
Kulturkreis der chinesischen Zeichen, und so sind Tawadas Überlegungen zu den
Gemeinsamkeiten und Differenzen sehr motivierend.
Drittens tragen Reflexionen über die Sprache
zum weiteren Nachdenken über die
Muttersprache oder die Sprache überhaupt bei. Nicht nur das eigene Sprachrepertoire
wird hinsichtlich Wortschatz, Denkweisen oder Wertvorstellungen bereichert. Die
Lernenden öffnen sich kritisch gegenüber der eigenen Muttersprache und
betrachten die eigene Sprache und die darin enthaltene eigene Kulturtradition
unter einer relativierenden Perspektive. Franco Biondi, der aus Italien stammt,
aber seine Literatur nur auf Deutsch verfasst, beschreibt seine Erfahrung in
einem Interview mit dem Titel Im
Labyrinth der Herkunft:
Man
kann sich in eine Sprache hineinfühlen, hineindenken, höchstens sich ihr
annähern; aber ich erlebe die Beziehung zur Sprache als brüchig, als
unbeständig, und deswegen ist es ein ständiges Hin und Her innerhalb einer
Sprache. Man kann sich ein vorläufiges, aber kein dauerhaftes Zuhause
errichten. Deswegen dieses Gefühl der Fremde auch in der Sprache. Ich denke, an
diesem Punkt gibt es keinen Unterschied zwischen dem Italienischem und dem
Deutschen. Im Prinzip geht es auch den Eingeborenen, den Einheimischen so, aber
es ist ihnen nicht bewusst. Sie verlassen sich darauf, dass es eine scheinbare
Sicherheit in der Sprache gibt. Aber wenn man anfängt zu ironisieren, wenn ich
anfange, Unsicherheiten in die Sprache einzustreuen, dann würde man merken,
dass selbst Einheimische plötzlich verunsichert sind. (Biondi 1998: 145f)
Die echte Interkulturalitätserfahrung
gestattet es den Lernern, plurale Kulturen zu akzeptieren, und macht dabei
nicht nur das Fremde eigen, sondern auch das Eigene fremd. Das eigentliche
Charakteristikum der Sprache, das Muttersprachler oft beim automatisierten
Denken vergessen, ist die Tatsache, dass die Sprache ein fremdes und kulturell
erworbenes Medium ist. Krämer vermerkt, dass das Medium bei einer Störung seine
Existenz offenlegt, während es in der perfekten Funktion nicht sichtbar ist (Krämer
1974).
Andersheit liegt nicht nur in der fremden
Sprache, sondern in der Sprache selbst. Wenn der Ansatz der critical
incidents das Ziel hat, durch Darlegung und Diskussion unverständlicher
oder missverständlicher Situationen diese verständlich zu machen und
interkulturelle Kompetenzen zu erhöhen, wird durch den Einsatz der
Migrantenliteratur angestrebt, die Fremdheit selbst positiv zu bewerten und
doch dasselbe Ziel zu erreichen.
5 Motivation zum interkulturellen Schreiben
Fremdsprachenlerner vertreten häufig die Ansicht, dass eine
Fremdsprache ein Gegenstand sei, der beherrscht oder erobert werden soll, und
dass ausländische Lerner nie das Niveau von Muttersprachlern erreichen können.
Ausgehend von dieser psychologischen Vorannahme und dem damit verbundenen
Druck, kommen sie zu dem Schluss, dass sie in einer fremden Sprache nie
fehlerfrei sprechen oder schreiben können und niemals dem hohen Niveau der
schönen Literatur gewachsen sein werden. Die Schreibkompetenz wird von
koreanischen Lernenden oft als die beim Lernen einer europäischen Fremdsprache
am schwierigsten zu erwerbende Kompetenz empfunden. Im Fremdsprachenunterricht
ist daher nicht nur über die sprachliche, sondern auch über diese
psychologische Barriere zu diskutieren, denn für koreanische Studenten
erscheint die Demotivierung aus dem letzteren Grunde viel relevanter. Die
Migrantenliteratur zeigt dagegen Beispiele dafür, dass es auch möglich ist, in
einer fremden Sprache zu denken und zu schreiben.
Es ist bemerkenswert, wenn diesbezüglich Volkmann auf die Forderung
aufmerksam macht, wichtige Werke postkolonialer Autoren zur universitären Pflichtlektüre
zu machen. Diese Fiktionen erscheinen:
nicht allein aufgrund ihrer hohen
literarischen Qualität und des entsprechenden Komplexitäts- und Ambiguitätsgehaltes
[als] wertvolles Instruktionsmaterial. Sie stellen darüber hinaus genuine
Binnenperspektiven aus fremden Kulturräumen zur Verfügung, entfalten oftmals
emblematisch Kulturkonflikte ihrer geographisch-sozialen Sphäre und laden
schließlich durch ihren Verweis auf den transnationalen, globalen Charakter der
dargestellten Szenarien zur Stellungnahme und Auseinandersetzung durch den
europäischen Leser ein. (Volkmann 2010: 337)
Dieser Ansicht liegt ein ungleichwertiges Machtverhältnis hinsichtlich
der bisherigen Textauswahl im Namen der Klassik oder der Weltliteratur
zugrunde. Das kann zwar prinzipiell für jede Situation im
Fremdsprachenunterricht gelten und wird dann besonders deutlich, wenn zwischen
den Bezugsländern ein politisches oder wirtschaftliches Ungleichgewicht
besteht. Bei der Lektüre interkultureller Texte kann jedoch diese
wirklichkeitsbezogene und psychologische Belastung auf studentischer Seite
deutlich abgemildert werden.
Darüber hinaus stellt die Existenz der Migrantenliteratur für die
Studenten ein lebendiges Beispiel dafür dar, dass es möglich ist, in einer
fremder Sprache Literatur zu verfassen. Das Verhältnis zwischen dem
Verstehenden und dem zu Verstehenden erweitert sich durch die Interferenz der
Perspektive der fremden Autoren zu einem Dreiecksverhältnis. Die
Lektüreerfahrung der Migrantenliteratur motiviert, ermutigt und ermuntert die
Lernenden, selbst in der Fremdsprache Texte - auch literarische Texte - zu
verfassen. Das Verständnis für die deutsche Literatur verwandelt sich: Die
deutsche Literatur wird von der Literatur der Deutschen zu der Literatur der
Deutsch schreibenden Schriftsteller. Häufig thematisieren die literarischen
Stoffe die Situation des Fremden, und die Studenten werden sich ihrer eigenen
interkulturellen Erfahrungen bewusst und verbalisieren sie. Auf diese Weise
gewinnt das Deutsche in Bezug auf die Ausdrucksmittel im weiteren Sinne eine
größere Bedeutung.
6 Abschließende
Bemerkungen
The
man who finds his homeland sweet is still a tender beginner; he to whom every
soil is as his native one is already strong; but he is perfect to whom the
entire world is as a foreign land. (Said, 1997:259)
Beim interkulturellen Lernen wird die Fremdheit
im Verständigungsvorgang zwar vermindert, aber nicht beseitigt. Vielmehr sollte
versucht werden, die Fremdheit unter verschiedenen Blickwinkeln positiver zu
betrachten und anders zu verstehen. Die als Lehrstoff
verwendete Migrantenliteratur bietet den ausländischen Lesern - indem sie
andere, aber genuine Umstände beschreibt und ähnliche Standpunkte bewusst macht
- die Möglichkeit, einen Wesenszug der Fremdheit zu erkennen. Durch die
Akzeptanz der Fremdheit werden das interkulturelle Lernen und die Fähigkeit,
die fremde und die eigene Kultur aus einer gewissen Distanz zu verstehen,
gefördert.
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