Wissenschaftlicher Sammelband, herausgegeben von Thomas Tinnefeld unter Mitarbeit von Ines-A. Busch-Lauer, Hans Giessen, Michael Langner, Adelheid Schumann. Saarbrücken: htw saar 2012. ISBN 978-3-942949-00-2.


Höflichkeit kommunizieren

Heinz-Helmut Lüger (Koblenz-Landau)

Il faut très peu de fonds pour la politesse dans les manières ; il en faut beaucoup pour celle de l’esprit.
(La Bruyère 1696/1962: 353)


Abstract (English)

Communication normally entails aspects of relationship handling. Any communication exchange affects the configuration of the constellations between the partners involved. The same applies to cases in which institutional regulations seem to exclude such factors; mere information transfer represents a rarity. The ways in which the communication partners get themselves involved, in which they express their estimation for their interlocutor last but not least depend on social and ethnic factors as well as the interlocutors’ roles and gender. In the present article, the ways how to express confirmation and distance taking as well as their relevancy for the handling of given relationships will be exemplified.
Key words:  face keeping, distance taking, marking of (social) position, expressing disagreement, media dialogues

Abstract (Deutsch)
Ohne Beziehungspflege kommt Kommunikation normalerweise nicht aus. Jeder Austausch sorgt gleichzeitig für eine bestimmte Gestaltung der Partner-Konstellation; dies gilt auch in Fällen, in denen institutionelle Regelungen solche Momente auszuschließen scheinen. Reiner Informations­transfer ist eher selten. Die Art und Weise, wie Kommunikationspartner sich selbst ins Spiel bringen, ihre Wertschätzung des Gegenübers zu erkennen geben, hängt nicht zuletzt ab von sozialen, ethnischen, rollen-, geschlechts- oder auch zeitspezifischen Faktoren. Im vorliegenden Beitrag geht es nun vor allem darum, anhand ausgewählter Beispiele die Ausdrucksmöglichkeiten von Bestätigung und Distanzwahrung und ihre Relevanz für die Beziehungsgestaltung zu verdeutlichen.
Stichwörter: Gesichtsbedrohung, Distanzwahrung, Positionsmarkierung, Dissenssignalisierung, Mediendialoge



1 Sprachliche Höflichkeit: Bestätigung und Distanzwahrung

Höflichkeit zu kommunizieren, bedeutet immer auch, auf Bedürfnisse des Interaktionspartners einzugehen, in seinem Sprachverhalten erkennen zu lassen, welche Wertschätzung man ihm entgegenbringt, wie man die gemeinsame Beziehung einschätzt oder wie man sie gestalten möchte. Höflichkeit hat auch damit zu tun, jemandem nicht zu nahe zu treten, Gefühle, Einstellungen und Haltungen des Anderen zu respektieren, ihn nicht einer kompromittierenden Situation auszusetzen. Höflichkeit ist insofern auch ein relativ offener und stark interpretationsabhängiger Begriff. Sprachlichen Ausdrücken kommt das Merkmal ‘höflich’ oder ‘unhöflich’ nicht a priori zu, ihre Bedeutung ergibt sich jeweils erst in der konkreten Kommunikationssituation. So kann z.B. der Gebrauch des Anredepronomens du je nach Gesprächskonstellation als normal und vertraut gelten, in anderen Situationen jedoch als unangemessen oder anmaßend. Und auch die ver­meintliche Höflichkeitsform Sie kann unter Umständen als grob unhöflich verstanden werden, nämlich dann, wenn ihre Verwendung den pragmatischen Regeln widerspricht:

Denken wir uns einen Mann, der nach Jahrzehnten einen Jugend- und Schulfreund wiedertrifft. Es wäre eine gravierende Unhöflichkeit und hätte für den Jugendfreund durchaus den Charakter einer Beleidigung, wenn ihm die vertraute du-Anrede verweigert würde. [...] Hier wäre also eine Sie-Anrede keine Höflichkeits-, sondern eine Unhöflichkeitsform. (Weinrich 1986: 12)

Ob eine Handlung als höflich betrachtet wird oder nicht, hängt wesentlich ab von den jeweiligen kommunikativen Bedingungen und von der Interpretation durch den oder die Adressaten. Höflichkeit ist somit mehr als das Reproduzieren einer wie auch immer gearteten Etikette, sie lässt sich nicht auf das Befolgen irgendwelcher Anweisungen aus der Ratgeberliteraur beschränken – in diesem Sinne kann man auch bereits die bei La Bruyère im eingangs zitierten Motto ausgedrückte Position verstehen[1].

Und bezüglich des Zwecks von Höflichkeit findet sich ebenfalls eine wegweisende Formulierung bei La Bruyère:

Il me semble que l’esprit de politesse est une certaine attention à faire que par nos paroles et par nos manières les autres soient contents de nous et d’eux-mêmes.  (La Bruyère 1696/1962: 164)

Der Gedanke, dass sprachliches und nichtsprachliches Verhalten auf das Wohlbefinden der Adressaten (« contents d’eux-mêmes ») und auf eine positive Sprecher-Hörer-Beziehung (« contents de nous ») abzuzielen habe, erinnert in erstaunlicher Weise an die drei Höflichkeitsmaximen von Robin Lakoff (1973):

1) Don’t impose.
2) Give options.
3) Make your receiver feel good.

Und von hier aus scheint nur noch ein kurzer Weg zu sein zu dem bekannten face-saving-Konzept à la Brown / Levinson (1987)[2]. Mit Blick auf den Adressaten wären hier vor allem zwei Gruppen höflichkeitsrelevanter Handlungen zu unterscheiden: Zum einen kann man Aktivitäten nennen, die als ein unangemessenes Zu-Nahe-Kommen, als Einschränkung des individuellen Freiraums betrachtet werden, z.B. durch eine Bitte, eine Aufforderung, ein Verbot; eine massive Form der Freiraumbegrenzung und mangelnder Distanzwahrung stellt zweifellos der Befehl dar. In all diesen Fällen, die den Prinzipien Don’t impose und Give options mehr oder weniger zuwiderlaufen, wird üblicherweise von einer „Bedrohung des negativen Gesichts“ gesprochen. Das „positive Gesicht“ ist dagegen betroffen, wenn ein Kommunikationspartner seinen Wunsch nach Anerkennung, nach Bestätigung seines Selbstbilds, nach Wertschätzung nicht erfüllt sieht bzw. wenn die Maxime Make your receiver feel good keine Anwendung findet. Typische Handlungen, die zu einer „Bedrohung des positiven Gesichts“ führen können, umfassen ein Spektrum, das von Kritik über Zurückweisungen, Ablehnungen bis hin zu Beleidigungen reicht. In Abb. 1 sind die beiden typischen Arten der Gesichtsbedrohung unter den Aspekten Bestätigung und Distanzwahrung wiedergegeben. Als solche betreffen sie nicht nur den Hörer oder Textrezipienten, sondern auch den Sprecher oder Textproduzenten: Eine Gefährdung des eigenen positiven Gesichts kann z.B. aus Selbstkritik, aus Zugeständnissen oder Entschuldigungen resultieren, Bedrohungen des eigenen negativen Gesichts gehen möglicherweise einher mit Versprechen oder anderen Selbstverpflichtungen.

Abb. 1:  Gesichtsbedrohung und Höflichkeit


In der Kommunikation wird Gesichtsbedrohungen häufig durch bestimmte Verfahren der Vermeidung und der Abschwächung, durch sog. Höflichkeitsstrategien, begegnet; dies kann in Form spezieller Formulierungen, mit der Wahl geeigneter Handlungen oder mit Hilfe besonderer Handlungssequenzen geschehen. Insofern ist der Ausdruck von Höflichkeit nicht allein unter lexikalischen oder syntaktischen Gesichtspunkten beschreibbar, sondern erfordert immer auch die Einbeziehung der Textebene.[3]

Höflichkeitsstrategien haben keinen universellen Status, sondern unterliegen in der Regel vielfältigen soziokulturellen, historischen, alters- und / oder situationsspezifischen Bedingungen. Hierzu noch einmal eine markante Stellungnahme von La Bruyère:

[La politesse] suit l’usage et les coutumes reçues ; elle est attachée aux temps, aux lieux, aux personnes, et n’est point la même dans les deux sexes, ni dans les différentes conditions [...]. (1696/ 1962: 163 f.)[4]

In den folgenden Abschnitten sollen einige dieser Unterschiede anhand ausgewählter Textbelege näher beleuchtet werden.


2   Höflichkeit als textstilistisches Phänomen

Es gibt Situationen, in denen zum Schutz der eigenen oder fremden Sphäre bestimmte Maßnahmen geboten erscheinen. Als typisches Demonstrationsobjekt gilt vielfach die Aufforderung. Um beispielsweise zu erreichen, dass jemand beim Tragen eines Bierkastens behilflich ist, bieten sich verschiedene syntaktische Grundmuster – mit abnehmendem Höflichkeitsgrad – an: ein Konditionalgefüge (Es wäre gut, wenn du den Bierkasten nimmst.), eine Frage (Nimmst du den Bierkasten?), ein Imperativsatz (Nimm du den Bierkasten!) oder ein Aussagesatz (Du nimmst den Bierkasten.).[5] Mit zweigliedrigen Konstruktionen läßt sich, sofern in einer entsprechenden Situation eine Bedrohung des negativen Gesichts angenommen wird, ein solcher Effekt abschwächen (Bist du so nett und nimmst den Kasten? / Sei so nett und nimm den Kasten. / Du bist so nett und nimmst den Kasten.). Als weitere Möglichkeit der Modulierung kommt grundsätzlich der Einsatz von Modalverben, Modi, Satzadverbien, Partikeln in Betracht (Kannst / Könntest / Könntest du mal / Könntest du vielleicht mal so nett sein und nimmst den Kasten?); eine Kombination der genannten Mittel ergäbe: Es wäre wirklich sehr nett, wenn du doch mal den Kasten nehmen könntest. Die grammatischen Mittel sind indes nicht, wie bereits betont, in einem mechanischen Sinne als höflichkeitserzeugend zu verstehen, sondern immer nur relativ zu einem gegebenen Äußerungszusammenhang interpretierbar. Vor diesem Hintergrund seien nun einige authentische Beispiele vorgestellt.


2.1     Aufforderung vs. Distanzwahrung

Man kann sich angesichts des Beispiels (1) prinzipiell fragen, ob in institutionellen Kontexten der Ausdruck von Höflichkeit überhaupt erwartbar ist, da hier ja die vollzogenen Handlungen oft stark konventionalisiert sind und der Textproduzent gar nicht als Person in Erscheinung tritt.

Beispiel (1):

              Öffentliche Mahnung

Die zum 15.08.2000 fälligen Steuern, Gebühren
und Beiträge (3. Jahresrate)
a) Grundsteuer mit Nebenabgaben
b) Gewerbesteuer
c) Wasserbezugs- und   Kanalbenutzungsgebühren
d) Wiederkehrender Beitrag
sind, soweit sie nicht über diesen Zeitpunkt hinaus
gestundet wurden, nunmehr sofort bei der Verbandsgemeindekasse Bad Bergzabern einzuzahlen oder dieser auf bargeldlosem Wege zuzuleiten; ansonsten werden die rückständigen Beträge zwangsweise eingezogen.
                                                                            
Bad Bergzabern, 16. Aug. 2000
- Verbandsgemeindekasse  und Verbandswerke-

(Südpfalz Kurier 33/2000)

Ohne Frage handelt es sich in (1) um ein weitgehend anonymisiertes Kommunikationsbeispiel. Die Legitimation der vorliegende Zahlungsaufforderung basiert auf rechtlichen Bestimmungen, die als gegeben vorausgesetzt werden und keiner Begründung bedürfen. Nur so ist die Textüberschrift „Öffentliche Mahnung“ zu erklären, nur so wird plausibel, dass die Aufforderung sogleich mit einer Sanktionsandrohung („ansonsten werden die rückständigen Beträge zwangsweise eingezogen“) verknüpft wird[6]. Aus der Sicht der Adressaten kommt jedoch Folgendes hinzu: Da die Zahlungsaufforderung, sieht man einmal von der Möglichkeit einer früheren Stundung ab, nicht den geringsten Handlungsspielraum vorsieht, kann sie durchaus auch als schroff, geradezu als höflichkeitsabstrakt wahrgenommen werden. Der Textproduzent gibt ausdrücklich zu erkennen, dass hier Distanzwahrung und Gesichtsschonung keinerlei Rolle spielen, die Textmitteilung bleibt auf das juristisch Notwendige beschränkt.

Eine andere Form der Behördenkommunikation scheint sich im folgenden Beispiel (2) anzudeuten:

Beispiel (2):

Auch hier geht es um eine spezielle Art der Aufforderung, nämlich um den Appell vor allem an Motorradfahrer, die Geschwindigkeit zu drosseln. Allerdings gibt es kein traditionelles Verbotsschild, sondern eine Hinweistafel, mit der der Textproduzent, die zuständige Straßenbehörde, so etwas wie ein solidarisches Interesse an den Adressaten bekundet: Das Kreuz in der Mitte des Schildes, die Headline „Der Tod fährt mit“ und vor allem das fragende „Zu schnell???“ haben keinen belehrenden Charakter und drücken eher den Versuch aus, im Sinne der Betroffenen eine Warnung oder einen wohlmeinenden Rat abzugeben. Damit betreibt die Behörde gleichsam Imagewerbung in eigener Sache (Pflege des positiven Gesichts) und vermeidet durch den Verzicht auf Kritik oder eine direkte Aufforderung bei der angesprochenen Zielgruppe gleichzeitig eine Bedrohung des negativen Gesichts.


2.2  Ablehnung vs. Gesichtsschonung

Ablehnungen stellen unter Höflichkeitsgesichtspunkten insofern eine Herausforderung dar, als hier normalerweise zwei gegenläufige Ziele miteinander zu verbinden sind: einerseits die Formulierung des ablehnenden Bescheids selbst, andererseits die Antizipation möglicher Reaktionen auf Seiten des Adressaten; dies kann je nach Bedeutsamkeit der Ablehnung unterschiedlich ausformuliert sein.

Manchmal ist es so, dass wir, jenseits eines primären Handlungsziels, weitergehende Kommunikationsziele anstreben, deren Erlangung uns dazu veranlasst, mehr als nur das unbedingt Erforderliche zu tun. (Franke 2001: 5)

Als Beispiel der Absagebrief auf eine Stellenbewerbung:

Beispiel (3):

Sehr geehrter Herr  …,

das Verfahren zur Besetzung der BAT-IIA-Stelle als Lehrkraft für besondere Aufgaben (Fachlehrer für Französisch) ist inzwischen abgeschlossen. Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Bewerbung innerhalb eines Feldes von 80 Kandidatinnen bzw. Kandidaten nicht berücksichtig werden konnte. Ausdrücklich füge ich hinzu, dass diese Entscheidung der Berufskommission keinerlei Bewertung Ihrer Qualifikation im Hinblick auf die mit der Stelle verbundenen Aufgaben bedeutet.

Indem ich mich für Ihr Interesse an einer Tätigkeit innerhalb der Universität Trier bedanke, möchte ich Ihnen für Ihre berufliche Zukunft alles Gute wünschen.

Die vorgelegten Bewerbungsunterlagen erhalten Sie hiermit zurück.

Mit freundlichen Grüßen

Ablehnungsbescheide gelten gewöhnlich als wenig kreativ, als inhaltlich und sprachlich stark vorgeprägt und als potentiell gesichtsbedrohend. Letzteres trifft vor allem auf Absagen auf eine Stellenbewerbung zu. Von daher kann man in entsprechenden Mitteilungen häufig ein Bemühen um Relativierung und Abschwächung beobachten:

eine Tendenz, die zentrale Komponente möglichst indirekt zu realisieren, sie einzubetten und eher im Briefkern als an erster Stelle zu plazieren. Die Absage wird durch rahmende, vor- und nachbereitende Äußerungen gewissermaßen ‚gepolstert‘ (Drescher 1994: 128).

Je nach Ausführlichkeit dieser abschwächenden Maßnahmen kann man – mit Franke (2001: 21) – sogar eine personenorientierte und eine sachorientierte Variante der Textsorte Ablehnungsbescheid unterscheiden.

In (3) ist eine solche Personenorientiertheit bereits in der Formulierung der Kernaussage sichtbar: Der Verfasser versucht, den zu übermittelnden negativen Inhalt mit einem Präsatz des Bedauerns („ich bedaure,...“), dem Modalverb müssen, dem Hinweis auf die große Bewerberzahl („innerhalb eines Feldes von 80 Kandidatinnen bzw. Kandidaten“) und mit dem agenslosen Passiv („nicht berücksichtigt werden konnte“) abzumildern. Es geht aber nicht allein um eine Reduzierung der mit der Absage ausgelösten Verletzung des positiven Gesichts. Darüber hinaus verfolgt der Textproduzent die Strategie, explizit auch das unterstellte Selbstbild des Adressaten zu bestätigen – dessen „Qualifikation im Hinblick auf die mit der Stelle verbundenen Aufgaben“ erfahre, so unwahrscheinlich das klingen mag, mit der negativen Entscheidung gar keine Bewertung. Als ebenfalls imagestärkend für den Kandidaten sind der anschließend ausgesprochene Dank und die Wünsche für die „berufliche Zukunft“ interpretierbar. Und auf diese Weise, wie schon im Zusammenhang mit Beispiel (2) skizziert, präsentiert sich der Textproduzent, trotz der negativen Mitteilung, als solidarische und empathiefähige Person.

Fasst man zusammen, welche Komponenten für eine solche personenorientierte Form des Ablehnungsbescheids charakteristisch sind, kann man festhalten:

  • persönliche Anrede (Standardformel: Sehr geehrte/r Frau/Herr ...),[7]
  • Mitteilung über den Ablauf des Besetzungsverfahrens bzw. der EntscheidungsfindungBescheid über den Ausgang der Bewerbung (Absage),
  • Ausdruck des Bedauerns + Begründung bzw. Bedingungen der Entscheidung,
  • Dank (für Interesse an der Institution), Wünsche (für berufliche Zukunft),
  • Ankündigung der Rücksendung der Unterlagen,
  • Grüsse (Standardformel: Mit freundlichen Grüßen).

Die eigentliche Absage - der Aussagekern - kann also auf vielfältige Weise eingebettet und abgefedert werden. Im Vergleich dazu fallen Exemplare der sachorientierten Variante meist ausgesprochen knapp aus; Höflichkeitsaspekte, Rücksichtnahmen auf Bedürfnisse der Gesichtsschonung werden vernachlässigt (Beispiel (4)).

Beispiel (4):


Im Auftrag der Personalabteilung der Universität Mainz senden wir Ihnen Ihre Bewerbungsunterlagen wieder zurück. Die Stelle ist in diesem Monat wieder besetzt worden.

Mit freundlichen Grüßen
gez.
(Dr.  … )


In (4) verzichtet der Brief-Verfasser nicht nur auf eine persönliche Anrede, er sieht sogar von einer eindeutigen Formulierung des negativen Bescheids ab; der Text dürfte in seiner rigiden Knappheit kaum noch überbietbar sein und im Rahmen des Spektrums textsortenspezifischer Realisierungsformen kein prototypisches Muster darstellen.

Bezüglich der Formulierung schriftlicher Texte ist generell zu bedenken, dass es keine direkten Rückmeldungen der Adressaten gibt. Eventuelle negative oder nicht gewollte Reaktionen sind, abhängig von der Kommunikationssituation - jedoch oft antizipierbar -, und der Textautor kann im Sinne einer Konfliktprophylaxe bei der Abfassung seiner Mitteilung darauf eingehen. Dies betrifft - wie anhand der Beispiele demonstriert - ganz besonders die Beziehungsgestaltung und damit den Einsatz sprachlicher Mittel und Strategien zur Vermeidung oder Abschwächung von Gesichtsbedrohungen.

In Ergänzung zu den bisher erläuterten Beobachtungen soll nun im Folgenden die Verbalisierung von Höflichkeit in mündlicher Kommunikation im Vordergrund stehen.


3   Lob und Tadel – Tischgespräche und ihre mediale Zuspitzung

Die herangezogenen Gesprächs- und Redebeispiele sind der seit mehreren Jahren etablierten Fernseh-Kochshow Das Perfekte Dinner des Senders VOX entnommen. Die Sendung beruht auf einem Kochwettbewerb, bei dem fünf Teilnehmer in einer Woche miteinander konkurrieren, indem sie an einem Tag als Gastgeber fungieren und die übrigen Teilnehmer mit einem Drei-Gänge-Menü bewirten.



Abb. 2:  Kochshow-Teilnehmer[8]

Die Tischgespräche sind geprägt von höchst unterschiedlichen Stellungnahmen: Lobende, harmonieorientierte Kommentare kommen ebenso vor wie Frotzeleien, provozierende oder humorvolle Bemerkungen; natürlich finden sich auch kritische Äußerungen in dieser Gesprächssituation[9]. Insofern stellt der Ausschnitt (5) mit der Kritik am ausgeschenkten Wein keine Ausnahme dar.

Beispiel (5):

K kann in Z.02 sein Unbehagen offenbar nicht unterdrücken, spricht parallel zu P zwar anfangs noch leise, aber durchaus vernehmbar, wie die anschließende Reaktion von H zeigt, und gibt dem Tischgespräch so eine deutliche Wende: Im Mittelpunkt steht fortan die Frage des Barrique-Ausbaus allgemein. Die anfänglichen Vorbehalte erfahren durch die Nachfrage von H (Z.03/05) eine inhaltliche Ausweitung und eine Steigerung der Ernsthaftigkeit. K äußert massive Kritik („die schmeißen da [...] nur noch n stück holz rein“) und bezieht diese ausdrücklich auch auf pfälzische Weine (Z.09/11: „aber SICHER in der pfalz“), was angesichts der Teilnehmerschaft – die Sendebeiträge stammen in dieser Woche ausschließlich aus der Umgebung von Landau in der Pfalz – eine enorme Provokation darstellt. Dies kann auch durch das vermeintliche Einlenken in Z.11, wo K auf einen alternativen Wein verzichtet, kaum relativiert werden.

Während in (5) die Kritik am Gastgeber sehr massiv und direkt ausfällt, kann man in den Stellungnahmen (6) und (7) eine Vorgehensweise beobachten, die von mehr Zurückhaltung in der Formulierung geprägt ist:

Beispiel (6):



P:   der fenchel … ähm … wurde uns erklärt hat
vier stunden … vor sich HIN gebrutzelt oder
gekocht … und das hab ich also auch sofort
gemerkt der schmeckte also n bißchen säuerlich
und war eigentlich verkocht
                                                      (Fenchel; 11-7-07; 35:22)

Beispiel (7):


P und B haben die Absicht, eine Zutat des Essens zu beurteilen, und kommen übereinstimmend zu einer überwiegend negativen Einschätzung („eigentlich verkocht¯“, „hätte kräftiger sein müssen“).[10] In beiden Fällen wird das Urteil eingebettet in einen relativierenden Begründungszusammenhang. P greift eine Erklärung des Gastgebers auf und sieht die lange Kochzeit als Ursache für das enttäuschende Resultat. Wichtig ist hier auch die Formulierungsweise selbst: Der Vorlauf der Negativbewertung enthält mehrere stille und gefüllte Pausen (..., ähm); die Selbtkorrektur („vor sich HIN gebrutzelt oder gekocht“) und die zweimal gebrauchte Partikel also fungieren als weitere Verzögerungs­phänomene. Hinauszögernd wirkt letztlich auch die gesamte eingeschobene Passage („ähm ... wurde uns erklärt ... sofort gemerkt“). Alles zusammen vermittelt den Eindruck einer gewissen Unsicherheit, dies umso mehr, als die beiden Bewertungen säuerlich und verkocht noch durch Heckenausdrücke wie bisschen und eigentlich abgefedert werden. Entscheidend für die Verringerung der Gesichtsbedrohung ist hier also, wie die Negativbeurteilung positioniert und mit welchen Vorlaufelementen sie entschärft wird. Auch in (7) spielen Verzögerungen an mehreren Stellen eine Rolle; in diesem Sinne verstärkend kommt der abschließende Satzabbruch hinzu. Die concessio-Figur mit der typischen zwar-aber-Konstruktion, die vorangestellte Subjektivitätsformel „ich denke mal“ wie auch die betont informelle Redeweise („es waren zwar n paar morcheln unterwegs“) sorgen wiederum für eine Relativierung der Bewertung und damit für eine Imageschonung des gemeinten Adressaten.

Beispiel (8): 

Es zeichnet den Kochwettbewerb aus, dass nicht nur Komplimente und höflichkeitsorientierte Kommentare abgegeben werden, sondern Teilnehmer sich auch mit ausgefallenen oder besonders drastischen Bewertungen zu profilieren suchen. Beispiel (8) entstammt einer Situation, in der B für den Hauptgang verschiedene Salze präsentiert und K die erstbeste Gelegenheit nutzt, die Sprecherrolle (auf Kosten von U) zu übernehmen (Z.10/11) und die Idee der Gastgeberin gänzlich unvermittelt mit den Worten „das ist eine schnickschnackmode aller erster sorte“ herabzuwürdigen. Ein ähnlich radikales Urteil findet sich in (9): Ein Risotto stößt auf starke Ablehnung, und die Qualifizierung als „eine PAPPse äh die mir auf der gabel klebt die mir [...] an der zunge klebt“ lässt in der Tat kein gutes Haar an dem Gericht; und auch der abschließende Satz („das tu ich mir nicht an“) fügt sich, da ohne jede Abschwächung, nahtlos ein.[11]

Beispiel (9):

Längere Monologe sind im Perfekten Dinner - da für die Zuschauer offenbar wenig attraktiv - relativ selten. Von daher haben die Teilnehmer längst nicht immer Gelegenheit, ihre Bewertung ausführlich und in einem gleichsam argumentativen Zusammenhang zu begründen. Damit steigt das Risiko schroffer, gesichtsbedrohender Urteile. Umgekehrt wird in ausführlichen Bewertungssequenzen, wenn sie denn vorkommen, schnell deutlich, in welchem Maße die Teilnehmer generell bemüht sind, verletzende Kommentare zu vermeiden – und damit sich selbst nicht als unhöflich darzustellen.

Beispiel (10):
Die in (10) zitierte Passage veranschaulicht noch einmal die Tendenz, bei negativen Urteilen möglichst auf intensive, konturenscharfe Ausdrücke zu verzichten. U geht hier in zwei Schritten vor, lobt zunächst ausdrücklich die Art des Würzens („also war richtig intenSIV“ = Bewertung 1) und wendet sich erst dann seiner kritischen Stellungnahme zu. Kombiniert mit den üblichen Vorlaufelementen (gefüllte und stille Pause, doppelte Abschwächung durch „vielleicht n bißchen“) folgt schließlich der eigentliche Negativkommentar (= Bewertung 2), allerdings in einer eher indirekten Form („weiß jetzt immer noch nicht wie taubenbrust schmeckt¯). Eine Formulierung wie „Die Taubenbrust wurde falsch zubereitet“ gibt es an dieser Stelle nicht.
Im Unterschied dazu können die Teilnehmer die Möglichkeit zur Stellungnahme auch nutzen, um sich mit speziellen Bewertungen besonders in Szene zu setzen. Ein bezeichnendes Beispiel liefert diesbezüglich der folgende Auschnitt.

Beispiel (11):

Der Sprecher ist sich ganz offensichtlich der Provokation bewusst, die er mit seiner despektierlichen Äußerung „das war perlen vor die säue geschmissen¯“ auslösen dürfte, und schaltet deshalb zwei hinführende Kommentare vor:
  • Er verweist zuallererst auf den subjektiven Charakter seiner Einschätzung („ich hab [...] n eindruck“), verstärkt diese Relativierung durch die Formel „ein GANZ klein bißchen“ und bricht dann die begonnene syntaktische Konstruktion ab; die Aposiopese mag man noch als symptomatisch für die Formulierungsarbeit, als Zeichen einer nicht vollständig durchgeplanten Äußerungsfolge deuten.
  • Mit dem anschließenden metakommunikativen Satz versucht K jedoch, den Hörer darauf vorzubereiten, dass eine auch aus seiner Perspektive als „frech“ anzusehende Aussage folgen wird.
  • Mit dieser für die gesamte Stellungnahme zentralen Bewertung, die zudem keinerlei abschwächende Ausdrücke aufweist, wird letztlich die ganze Teilnehmergruppe des­avouiert. Auf das Phrasem Perlen vor die Säue werfen greift man normalerweise zurück, um deutlich zu machen, dass man jemandem etwas Wertvolles geboten oder geschenkt hat, was dieser nicht zu schätzen weiß; hieran ändert auch die Substitution von werfen durch das umgangssprachliche schmeißen nichts.
  • Die sequenzabschließende Erläuterung kann man ebenso als Bekräftigung, als weitere Konkretisierung der vorausgehenden Bewertung ansehen.

Betrachtet man die Kommentierungssequenz bezüglich der Ebenen Selbstdarstellung und Beziehungsorganisation, ist vor allem die Bewertungsäußerung ebenso interpretierbar als Versuch, eine Überlegenheits-Position einzunehmen und sich von den übrigen Teilnehmern abzuheben.

Der Sender hat übrigens die zentrale Bewertung in den Trailer des Kochwettbewerbs aufgenommen, und zwar ohne die einbettenden Kommentare. Der Satz „Das war Perlen vor die Säue geschmissen“ war somit an jedem Wochentag bei Sendungsbeginn aus dem Munde K’s zu hören.

Die Herausstellung einer provokativen Äußerung ist in der Kochshow kein Zufall. Im Gegenteil: Polarisierendes oder gar aggressives Sprachverhalten wird bevorzugt aufgegriffen; das Interesse an Konflikten, an gegensätzlichen Meinungen scheint größer zu sein als an höflichen, auf Gesichtsschonung bedachten Kommunikationsformen. Harmonische Geselligkeit und kooperatives Dialogverhalten sind aus der Sicht der Medienverantwortlichen weniger geeignet, die Sendung im Gespräch zu halten. Insofern wird leicht plausibel, warum aus den zahlreichen Stellungnahmen der Teilnehmer gerade diejenigen ausgewählt werden, die prägnante und zugespitzte Formulierungen enthalten, die Kontroversen wiedergeben oder die Witz und Originalität zeigen. Und, falls nötig, läßt sich durch entsprechende Maßnahmen der Interviewer auch nachhelfen. Es gehört offenkundig zum gegebenen Medienformat, Unkonventionellem mehr Raum zu geben als Regelkonformem. Und das Vergnügen der Zuschauer lässt sich mit Lästern, mit Spott und Schadenfreude leichter stimulieren als nur mit gekonnten, reibungslosen Abläufen. Hierzu gehört auch eine gewisse Typisierung der Teilnehmer: Man gewinnt mitunter den Eindruck, den Kandidaten sei über die einzelne Sendung hinaus eine bestimmte Rolle (vom ewigen Nörgler bis zum oberlehrerhaften Besserwisser) zuzuordnen. Eine solche Profilierung kann auf mehreren Ebenen gesteuert werden: einmal durch die Kandidatenauswahl in den Casting-Runden, dann durch die Präferenz bestimmter Stellungnahmen in der Vorbereitungsphase der Sendung und schließlich durch die Art der Off-Kommentare während der ausgestrahlten Sendung selbst. Es leuchtet ein, dass in solchem Kontext drastische Kommentare und auch massive Angriffe auf das positive Gesicht von Konkurrenten einfach bessere Voraussetzungen bieten, den Unterhaltungswert der Kochshow zu fördern. Dagegen würde die ständige Beachtung von Höflichkeitsgeboten für viele Zuschauer wohl nur eine langweilige (und quotenabträgliche) Gleichförmigkeit der Kandidaten bewirken. So etwas scheint auch bereits La Bruyère im Sinn gehabt zu haben:

Le commerce du monde et la politesse donnent les mêmes apparences, font qu’on se ressemble les uns aux autres par des dehors qui plaisent réciproquement, qui semblent communs à tous [...]. (1696/ 1962: 348)




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[1]  Höflichkeit als eine interaktive Kategorie zu betrachten, dürfte in der sprachwissenschaftlichen Dis­kussion inzwischen weitgehend Konsens sein; vgl. u.a. Bertrand (1992), Held (1995), Haferland / Paul (1996) und diverse Arbeiten in Lüger (2002), Ehrhardt / Neuland (2009).
[2]  Vgl. auch Fraser (1990), Held (1995), Lüger (2002a), Watts (2003). Das grundlegende und weit verbreitete Konzept von Brown / Levinson wurde allerdings auch kritisch rezipiert, u.a. wegen seines Universalitätsanspruchs.
[3] Neuland (2007), Lüger (2002a, 2010); vgl. außerdem zahlreiche Beiträge in Ehrhardt / Neuland (2010) und Ehrhardt / Neuland / Yamashia (2011).
[4] Zur kulturspezifischen Dimension vgl. ebenso Dretzke (1988), Held (2009) sowie, mit konkreten Analysebeispielen, Traverso (2000), Günthner (2002), Kotthoff (2003), Lüger (2011).
[5]  Zu den verschiedenen Modulierungsformen der Aufforderung sei besonders auf die auch sprachverglei­chend angelegte Darstellung von Raible (1987) verwiesen; vgl. weiterhin Lüger (1992), Held (1995), Thomsen (2000).
[6]   Eine solche Sanktionsmöglichkeit ist – so Dittmann (1979: 210) – charakteristisch für Abläufe in Institutionen, „wo Handlungs- bzw. Interaktionszusammenhänge als Muster fest etabliert, in der Verteilung auf wohldefinierte soziale Rollen vergegenständlicht und in Norm-Sanktions-Schemata abgesichert sind“.
[7]  Auf den Briefkopf (mit Angaben zur Institution, dem Betreff, dem Datum, dem Aktenzeichen) wird hier nicht weiter eingegangen.
[8]  http://www.vox.de/kochen/das-perfekte-dinner/details; 31.10.2012.
[9]   Zur Besprechung weiterer Beispiele der Kochshow vgl. auch Lüger (2011: 17ff).
[10] Diese Stellungnahmen erfolgen in Einzelinterviews, also separat von den Tischgesprächen; dabei werden die Teilnehmer nicht selten aufgefordert, ihre Antworten mehrfach zu reformulieren, stärker zu pointieren oder in einer bestimmten Weise inhaltlich auszurichten. Die Fragen und Aufforderungen der Interviewer sind in der später ausgestrahlten Sendung dann natürlich getilgt.
[11] Natürlich ist in solchen Kontexten ebenfalls von einem Bedürfnis auszugehen, sich gegenüber den anderen Teilnehmern (und Konkurrenten) als sprachlich versiert, als überlegen oder als besonders kompetent zu profilieren. Dieser Aspekt kann hier nicht weiter verfolgt werden und bleibt einer separaten Arbeit vorbehalten.